Blicken wir auf unsere Zustände im ganzen, so kön—
nen wir ja nicht die Augen verschließen vor so man—
chen sittlichen Schäden in unserem Volk. Es ist doch
tief betrübend, wie vielfach sich Verwandte und Ge⸗
meindeglieder das Leben verbittern mit Streit und
Feindschaft, durch Eigennutz und Habsucht; wie Ver—
eumdung, Lüge und Betrug, Diebstahl, Ranb und Ge—
waltthätigkeit so viel Störung und Elend verursacht,
wie durch Flüche und Mißhandluugen, durch Brand—
stistungen und Meineide, durch Todschlag und Mord
gleich einem bösen Nebel ein Bann auf unserm Lande
liegt, wie Unzählige ihr kostbares Leben in Ueppigkeit
und Unmäßigkeit vergeuden, und Leib und Seele be—
flecken durch Fleischeslust; was für ein finsterer Geist
des Neides und des Unmuts, der Unzufriedenheit und
Empörung durch die niederen Stände schleicht, während
in den höheren so viele der Hoffart und dem Luxus
fröhnen. Mit falschen Mitteln will man ein weltliches
Gluͤck erjagen, und wenn man sich getäuscht findet,
tann man das Mißraten, die Schande nicht ertragen
und stürzt sich durch schanerlichen Selbstmord in ewigen
Jammer.
Sind das nicht schreckhafte Erscheinungen? Nicht
die reichsten Ernten, nichst die stärksten Heere, nicht die
blühendsten Gewerbe sichern einem Gemeinwesen das
Gedeihen; die angesehensten Völker sind schon unter—
gegangen, weil Treu und Redlichkeit, Zucht und Sitte
verschwunden war. Stünde es nicht erfreulicher bei
uns, wenn mehr Gerechtigkeit, mehr Gewissenhaf—
tigkeit in den Häusern und Herzen waltete? Wo—
her soll aber di.en fließen und sich nähren, als aus der
Furcht vor dem lebendigen Gott, aus der Scheu vor
dem künftigen Gericht, alsso aus dem Glauben?
Wer Gott nicht fürchtet, was soll ihn zurückschrecken
vor einem Laster? Wer nicht beten kann, woher soll
er Kraft empfangen gegen einen Sündenreiz? Wer
nicht glaubt, wie soll er sich wehren gegen das Ver—
zagen? Wie soll man sich losmachen von den Fesseln
der Begierden, als durch die Zucht des heiligen Geistes?
O daß doch Stadt und Land, jung und alt umkehrte
zu seinem Sonntag, seiner Bibel, seinem Gott! Die
Gottesfurcht ist unseres Volkes Schirm und Schmuck,
— daß es doch nicht verarmen und versinken möchte
in Gottlosigkeit! Daß doch die edlen Kräfte, welche
der Herr in unser Volk gelegt hat, nicht ersticken, son—
dern unter dem Sonnenschein seiner Güte, unter dem
Regen seiner Gnadengerichte zeitigen möchten Früchte
des Heils, daß doch jedermann sich zur Buße kehre
und lebe! Dazu segne der Herr, an dem wir gesün—
digt haben und der reich ist an Gnade und Erbarmen,
auch den diesjährigen Bußtag an uns und an unserm
ganzen Volke! Amen
Der alte Kapitän.
Von N. Fries
(Fortsetzung.)
Zweites Kapitel. In der Kajüte.
Eine Kajüte ist ein Raum für alles. Wohnstube
und Schlafstube, Küche und Stall und Raritätenkabinet
obendrein. Die Ordnung, die hier herrscht, ist nach
gewöhnlicher Menschen Ansicht die schönste Unordnung,
soll aber nach Wunsch und Willen des Bewohners ge—
rade so sein. Die Reinlichkeit wird mit einem Besen
—
*
hesorgt, Seifenwasser, Bürsten u. dergl. sind hier durch—
aus überflüfsig. Eine Bettstelle oder Lager, worin und
worauf andere sterbliche Menschen zur Nachtzeit ihren
Schlaf suchen, gibt es hier auch nicht, wohl aber hängt
unter dem Boden eine Hängematte oder Koje, die ist
an einem Aufzug befestigt, wird abends heruntergelassen
und gewährt die schönste Ruhestätte. Das übrige Mo—
dilar besteht aus einer alten, rot angemalten Seemauns:
tiste, einer niedrigen Sitzbank, einem dreibeinigen Sche—
nel und einem Tisch, der vor dem aus Backksteinen roh
aufgemauerten Herd steht. Dieser Herd hat sogar eine
Hardine aus buntem Wachstuch und ein Gesims, wo—
rauf allerlei Merkwürdiges steht, das man nicht leicht
orkennt als das, was es ist. Unter der Decke baumelt
auch noch mancherlei: Körbe und Fischereigeräte und
das zierlich gearbeitete Modell eines Dreimasters. End—
lich äls Prachtstück der Kajüteneinrichtung ein Schrant
nit Doppelthür, um Flaschen, Kruken, Töpfe und
Näpfe zu bergen, deren jedoch stets ebenso viele obendrauf,
als drinnen hinter den Thüren stehen.
Ueber diesem Schrank befindet sich ein Bord, und
zwar ein Bücherbord! Zwei Bücher stehen freilich nur
drauf, aber: „Diese zwei sind anch völlig ausreichend für
Erd und Himmel, für Zeit und Ewigkeit,“ sagte Jens
Owesen; es ist erstlich die Stenermannskunde und zwei—
tens die heilige Bibel. Mit dem ersten Buch ist er
durch den Ocean gesteuert, mit dem letzteren hofft er
seine arme Seele in die ewige Seligkeit zu steuern.
Neben diesen beiden ehrwürdigen Büchern liegt auf der
zinen Seite ein Haufen alter, vergilbter Schiffsjournale,
auf der andern Seite steht ein dickbauchiges Tintenfaß
mit einem Gänsekiel darin. Nach diesen Schreibuten—
äilien zu urteilen, und in Anbetracht des vertrockneten
Schreibsaftes wird die Bremer Zeitung wahrscheinlich
Müͤhe haben zu entziffern, was Jens Owesen eigentlich
von ihr will.
Außer diesen leblosen Dingen, welche die Kajüte
wohnlich und gemütlich machen, haben wir noch von
zwei lebendigen Wesen zu berichten, welche dem alten
Kapitän das Dasein verschönerten. Das eine dieser
Wesen war einheimisch, nämlich ein großer, grauer Kater,
elbstverständlich keine Katze; das andere war tropisch,
aämlich ein perlgrauer Papagei, mit roten, etwas defet—
ten Schwanzfedern, der auf der Insel als einziger sei—
ner Art natürtich eine Berühmtheit war, von allen
Kindern: „Kapteins Pappe“ genaunt ward und nicht
inbedentendes Sprachtalent entwickelte, indem er auf
seines Herrn Hand sitzend, in beständig gurgelndem
Schmeichelton: „Komm Kaptein! Komm Kaptein!“
in sich hineinmurmelte. Dagegen sobald ein Kind
— männlichen oder weiblichen Geschlechts — sich zeigte,
oder gar die Schwelle der Kajüte überschritt, in wüten—
dem Gekreisch und mit gestraͤubten Federn laut schrie:
„Kinner rut! Kinner rut!“
Es verging mancher Tag auf der stillen, einsamen
Nordseeinsel, an welchem der alte Jens Owesen mit kei—
nem andern lebenden Wesen verkehrte, als mit diesen
heiden, dem Kater und dem Papagei. Er entbehrte
den menschlichen Umgang auch nicht eben; die meisten
waren nicht uach seinem Sinn, hatten andere Ansichten
und Meinungen und widersprachen ihm. Diese beiden
waren stets einverstanden mit ihm, widersprachen nie,
vertrugen sich auch unter einander — mit, seltenen
Ausnahmen — vortrefflich. Der Papagei setzte sich
dem Kater auf den Rücken und ließ sich stolz von ihm