Full text: Evangelisches Wochenblatt (13.1886)

Blicken wir auf unsere Zustände im ganzen, so kön— 
nen wir ja nicht die Augen verschließen vor so man— 
chen sittlichen Schäden in unserem Volk. Es ist doch 
tief betrübend, wie vielfach sich Verwandte und Ge⸗ 
meindeglieder das Leben verbittern mit Streit und 
Feindschaft, durch Eigennutz und Habsucht; wie Ver— 
eumdung, Lüge und Betrug, Diebstahl, Ranb und Ge— 
waltthätigkeit so viel Störung und Elend verursacht, 
wie durch Flüche und Mißhandluugen, durch Brand— 
stistungen und Meineide, durch Todschlag und Mord 
gleich einem bösen Nebel ein Bann auf unserm Lande 
liegt, wie Unzählige ihr kostbares Leben in Ueppigkeit 
und Unmäßigkeit vergeuden, und Leib und Seele be— 
flecken durch Fleischeslust; was für ein finsterer Geist 
des Neides und des Unmuts, der Unzufriedenheit und 
Empörung durch die niederen Stände schleicht, während 
in den höheren so viele der Hoffart und dem Luxus 
fröhnen. Mit falschen Mitteln will man ein weltliches 
Gluͤck erjagen, und wenn man sich getäuscht findet, 
tann man das Mißraten, die Schande nicht ertragen 
und stürzt sich durch schanerlichen Selbstmord in ewigen 
Jammer. 
Sind das nicht schreckhafte Erscheinungen? Nicht 
die reichsten Ernten, nichst die stärksten Heere, nicht die 
blühendsten Gewerbe sichern einem Gemeinwesen das 
Gedeihen; die angesehensten Völker sind schon unter— 
gegangen, weil Treu und Redlichkeit, Zucht und Sitte 
verschwunden war. Stünde es nicht erfreulicher bei 
uns, wenn mehr Gerechtigkeit, mehr Gewissenhaf— 
tigkeit in den Häusern und Herzen waltete? Wo— 
her soll aber di.en fließen und sich nähren, als aus der 
Furcht vor dem lebendigen Gott, aus der Scheu vor 
dem künftigen Gericht, alsso aus dem Glauben? 
Wer Gott nicht fürchtet, was soll ihn zurückschrecken 
vor einem Laster? Wer nicht beten kann, woher soll 
er Kraft empfangen gegen einen Sündenreiz? Wer 
nicht glaubt, wie soll er sich wehren gegen das Ver— 
zagen? Wie soll man sich losmachen von den Fesseln 
der Begierden, als durch die Zucht des heiligen Geistes? 
O daß doch Stadt und Land, jung und alt umkehrte 
zu seinem Sonntag, seiner Bibel, seinem Gott! Die 
Gottesfurcht ist unseres Volkes Schirm und Schmuck, 
— daß es doch nicht verarmen und versinken möchte 
in Gottlosigkeit! Daß doch die edlen Kräfte, welche 
der Herr in unser Volk gelegt hat, nicht ersticken, son— 
dern unter dem Sonnenschein seiner Güte, unter dem 
Regen seiner Gnadengerichte zeitigen möchten Früchte 
des Heils, daß doch jedermann sich zur Buße kehre 
und lebe! Dazu segne der Herr, an dem wir gesün— 
digt haben und der reich ist an Gnade und Erbarmen, 
auch den diesjährigen Bußtag an uns und an unserm 
ganzen Volke! Amen 
Der alte Kapitän. 
Von N. Fries 
(Fortsetzung.) 
Zweites Kapitel. In der Kajüte. 
Eine Kajüte ist ein Raum für alles. Wohnstube 
und Schlafstube, Küche und Stall und Raritätenkabinet 
obendrein. Die Ordnung, die hier herrscht, ist nach 
gewöhnlicher Menschen Ansicht die schönste Unordnung, 
soll aber nach Wunsch und Willen des Bewohners ge— 
rade so sein. Die Reinlichkeit wird mit einem Besen 
— 
* 
hesorgt, Seifenwasser, Bürsten u. dergl. sind hier durch— 
aus überflüfsig. Eine Bettstelle oder Lager, worin und 
worauf andere sterbliche Menschen zur Nachtzeit ihren 
Schlaf suchen, gibt es hier auch nicht, wohl aber hängt 
unter dem Boden eine Hängematte oder Koje, die ist 
an einem Aufzug befestigt, wird abends heruntergelassen 
und gewährt die schönste Ruhestätte. Das übrige Mo— 
dilar besteht aus einer alten, rot angemalten Seemauns: 
tiste, einer niedrigen Sitzbank, einem dreibeinigen Sche— 
nel und einem Tisch, der vor dem aus Backksteinen roh 
aufgemauerten Herd steht. Dieser Herd hat sogar eine 
Hardine aus buntem Wachstuch und ein Gesims, wo— 
rauf allerlei Merkwürdiges steht, das man nicht leicht 
orkennt als das, was es ist. Unter der Decke baumelt 
auch noch mancherlei: Körbe und Fischereigeräte und 
das zierlich gearbeitete Modell eines Dreimasters. End— 
lich äls Prachtstück der Kajüteneinrichtung ein Schrant 
nit Doppelthür, um Flaschen, Kruken, Töpfe und 
Näpfe zu bergen, deren jedoch stets ebenso viele obendrauf, 
als drinnen hinter den Thüren stehen. 
Ueber diesem Schrank befindet sich ein Bord, und 
zwar ein Bücherbord! Zwei Bücher stehen freilich nur 
drauf, aber: „Diese zwei sind anch völlig ausreichend für 
Erd und Himmel, für Zeit und Ewigkeit,“ sagte Jens 
Owesen; es ist erstlich die Stenermannskunde und zwei— 
tens die heilige Bibel. Mit dem ersten Buch ist er 
durch den Ocean gesteuert, mit dem letzteren hofft er 
seine arme Seele in die ewige Seligkeit zu steuern. 
Neben diesen beiden ehrwürdigen Büchern liegt auf der 
zinen Seite ein Haufen alter, vergilbter Schiffsjournale, 
auf der andern Seite steht ein dickbauchiges Tintenfaß 
mit einem Gänsekiel darin. Nach diesen Schreibuten— 
äilien zu urteilen, und in Anbetracht des vertrockneten 
Schreibsaftes wird die Bremer Zeitung wahrscheinlich 
Müͤhe haben zu entziffern, was Jens Owesen eigentlich 
von ihr will. 
Außer diesen leblosen Dingen, welche die Kajüte 
wohnlich und gemütlich machen, haben wir noch von 
zwei lebendigen Wesen zu berichten, welche dem alten 
Kapitän das Dasein verschönerten. Das eine dieser 
Wesen war einheimisch, nämlich ein großer, grauer Kater, 
elbstverständlich keine Katze; das andere war tropisch, 
aämlich ein perlgrauer Papagei, mit roten, etwas defet— 
ten Schwanzfedern, der auf der Insel als einziger sei— 
ner Art natürtich eine Berühmtheit war, von allen 
Kindern: „Kapteins Pappe“ genaunt ward und nicht 
inbedentendes Sprachtalent entwickelte, indem er auf 
seines Herrn Hand sitzend, in beständig gurgelndem 
Schmeichelton: „Komm Kaptein! Komm Kaptein!“ 
in sich hineinmurmelte. Dagegen sobald ein Kind 
— männlichen oder weiblichen Geschlechts — sich zeigte, 
oder gar die Schwelle der Kajüte überschritt, in wüten— 
dem Gekreisch und mit gestraͤubten Federn laut schrie: 
„Kinner rut! Kinner rut!“ 
Es verging mancher Tag auf der stillen, einsamen 
Nordseeinsel, an welchem der alte Jens Owesen mit kei— 
nem andern lebenden Wesen verkehrte, als mit diesen 
heiden, dem Kater und dem Papagei. Er entbehrte 
den menschlichen Umgang auch nicht eben; die meisten 
waren nicht uach seinem Sinn, hatten andere Ansichten 
und Meinungen und widersprachen ihm. Diese beiden 
waren stets einverstanden mit ihm, widersprachen nie, 
vertrugen sich auch unter einander — mit, seltenen 
Ausnahmen — vortrefflich. Der Papagei setzte sich 
dem Kater auf den Rücken und ließ sich stolz von ihm
	        
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