Full text: Evangelisches Wochenblatt (13.1886)

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1715 Postverzeichnis. Dreizehnter Jahrgang. — Vreis pro Quartal 30 4. Ins. Gebühr vro 3spaltige Zeile 202 Auflage 5100. 
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Neunkirchen, 253 den 9. Mai 
* G. 
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Ihr werdet mich sehen. 
Joh. 14, 19 
ie herrlich diese Weissagung sich erfüllt hat, 
— hat das Osterfest die Jünger und uns ge— 
2 lehrt. Keiner aus der Welt, kein Hoherpriester 
und kein Pharisäer hat ihn lebendig gesehen 
— darum nicht, weil seine Erscheinung für sie hätte 
doch nichts bedeuten können, als Gericht und Verwer— 
fung, und die Stunde war und ist noch nicht gekom— 
men; — und auch deshalb nicht, weil ihn nur die 
sehen können, die da in ihm leben im Glauben. Nur 
die reinen Herzen, die durch ihn gereinigten und gerecht— 
fertigten Scelen haben Augen, die ihn schauen. Und dort, 
im flillen Hause zu Jerusalem, in der Morgensonne am 
See Tiberias, auf der Höhe des Oelbergs, da haben ihn 
die Seinen gesehen und erkannt und ihre Herzen sind 
voll Freude geworden. 
Gilt die Verheißung auch heute noch? Oder ist 
sie bloß den Jüngern gegeben? Zuerst möchte es wohl 
scheinen, als sei das der Faäll. Weder du noch ich, 
noch überhaupt ein Lebender, er sei so treu im Glau— 
ben und so fest in der Liebe, wie er wolle, hat Jesum 
je gesehen. Und wenn wir es auch hoffen für eine 
andere Zeit und ein anderes Land, als diese Weltzeit 
und dies Erdenland, so ist es doch eben Hoffnung: 
niemand hat, was er hoffet, sonst hoffte er nicht mehr. 
Vielmehr das ist das Wort, das über dem Leben der 
Christenheit als Inschrift und Aufgabe steht; Selig 
sind, die nicht sehen und doch glauben, — die nicht 
sehen, daß er zur Rechten Gottes sitzt, und doch glau— 
ben, daß ihm alle Gewalt im Himmel und auf Erden 
gegeben ist, — die nicht sehen, daß sein Blut besser 
redet, denn Abels Blut, und doch glauben, daß in sei— 
nem Namen unserer Sünden Vergebung und unserer 
Gebete Erhörung steht, — die nicht sehen, wohin die 
Wege ihrer irdischen Wallfahrt zunächst sich lenken, und 
doch glauben, daß sie schließlich einmal, wenn man sie 
von ihm lenken läßt, mit aller Erwählten und Geret— 
teten Wegen in einen zusammenlaufen, in dem oberen 
Jerusalem, der Stadt, da man zusammenkommen soll. 
Und doch so gewiß das richtig ist, so ist die Ver— 
heißung doch auch uns gegeben: Ihr werdet mich sehen, 
— nicht bloß droben, sondern schon hier. Was der 
Herr zu seinen Jüngern redet, sonderlich in seinen letz— 
ten Tagen, das redet er zu ihnen doch, nicht weil das 
gerade Petrus oder Johannes ist, sondern weil es seine 
Jünger sind, und wer sein Jünger ist, dem gilt das 
auch. Freilich — weder so, daß wir ihn mit leiblichen 
Augen sehen sollen, noch auch so, daß wir ihn gerade 
immer sehen. Gewiß sind unter den vierzig Tagen der 
Freude, von denen es heißt, daß der Herr mit den 
Jüngern wandelte, auch manche gewesen, wo er nicht 
sichtbar bei ihnen war. Aber es gibt doch Augenblicke 
im Christenleben, wo man ihn wirklich im heiligen 
Glauben sieht. Sei es in der Stunde des heiligen 
Abendmahls, wo seine Gegenwart uns fühlbar nahe 
wird, sei es in der Versenkung in die Inbrunst des 
Gebetes, wo es uns ost zumute wird, als hätten wir 
ihn in aller seiner Freundlichkeit und Gnadenfülle bei 
uns, sei es in irgend einer Versuchungsstunde, wo sein 
teures Bild sich vor uns warnend und ernst erhebt, 
daß wir ihn nicht verlassen sollen, sei es unter dem 
Druck der Trübsal, wo es uns ist, als ob seine liebe 
Hirtenstimme uns fragte: Was weinest du? In allen 
olchen Stunden sehen wir ihn doch. Das sind doch 
die Stunden, von denen der Glaube spricht: „Ach, mein 
Jesn, dein Nahesein bringt großen Frieden ins Herz 
hinein“, — in denen die Sehnsucht betet: „Ich hab 
von ferne, Herr, deinen Thron erblickt und hätte gerne 
mein Herz vorausgeschickt. Sind das nur die Höhe— 
punkte unseres Glaubenslebens, so machen sie uns doch 
dessen gewiß: einmal, daß der Herr wirklich auferstan— 
den ist'von den Toten, und zum andern, daß der Le— 
bendige, ob auch unsichtbar, bei uns ist alle Tage bis 
an der Welt Ende. Müssen sie immer wieder schnell 
vorbeigehen, so sind sie doch da und sind, wie die 
Knospen Verheißungen der Blüte und einzelne Tropfen 
Verheißungen des fruchtbaren Regens sind, Weissagungen 
auf eine Zeit, wo wir ihn noch ganz anders, völlig, 
von Angesicht zu Angesicht sehen werden. 
Dennm freilich das erst ist die eigentliche Erfüllung, 
der volle Osterklang. Nach Galiläa, in das Land der 
Stille und des Friedens ging er seinen Jüngern voran 
— unser wartet auch ein Galiläa, wo er zu Hause ist, 
wohin er uns voranging, eine Ruhe, die vorhanden ist 
dem Volke Gottes. Jesus lebt — nun ist der Tod 
mir der Eingang in das Leben. Dort oben, wo ein— 
mal alle Sünde und alles Leid und alle Trennung zu 
Ende sein wird, dort jenseits, wo stille steht die Zeit 
mit ihrer Vergänglichkeit und Veränderlichkeit, dort 
wollen wir hin. Dort werden wir ihn sehen, sehen 
von Angesicht zu Angesicht, dort ihm danken dürfen, 
anders noch als hier, wo wir stammeln die Lob— 
gesänge der Erde, für alle Liebe und, was mehr 
ist, für alle langmütige Geduld, mit der er uns qge—
	        
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