Full text: Evangelisches Wochenblatt (13.1886)

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1715 Postver zeichnis. Dreizehnter Jahrgang. — Preis pro Quartal 60 4. Ins.Gebühr pro 3spaltige Zeile 29 4. Auflage 5000. 
Aẽ 14. Neunkirchen, *5548 den 4. April I1886. 
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Gabbatha. 
Matthäi 27, 11526 
ir sind es gewohnt, diese Leidensstätte des Herrn 
—— die anzusehen, von der Jesaias geweissagt 
hat: „Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach 
und Speichel.“ „Laß ihn kreuzigen! Gib uns 
Barabbam los! Sein Blut komme über uns und unsere 
Kinder!“ Das Herz thut einem weh bei diesem 
wüsten Geschrei, und am wehesten thut einem das Ende, 
daß an dem verkehrten Landpfleger alle Mahnung des 
Heilandsmundes, aller Eindruck der Jesusliebe verloren 
ist, so daß die Geschichte Gabbathas schließt: „Jessum 
ließ er geißeln und überantwortete ihn, 
daß er gekreuzigt würde.“ 
Und doch enthält diese Geschichte viel verborgene 
Herrlichkeit und viele Zeiscchen, daß auch hier in der 
entscheidenden Stunde der Vater zu seinem Sohne sich 
bekannt hat. 
Da ist zuerst des Pilatus Weib — gewiß eine Heidin, 
die sich nie viel um den Herrn gekümmert. Die wird 
zur Evangelistin. Im Tranm hat sie ihn gesehen, sei 
es als den Verachteten und Verschmähten, wie er vor 
ihres Mannes Throne stand, sei es als den Welten— 
richter, vor dessen Throne sie und ihr Mann zitternd 
standen. „Habe du nichts zu schaffen mit diesem Ge— 
rechten.“ Gott redet zu jedem, wie ers verstehen kann: 
zu uns durch das Wort, zu dem Heiden durch den 
Traum. Das mußte doch den Pilatus erschrecken. Da 
sagte ihm doch der lebendige Gott: Hüte dich, daß du 
nicht anders, denn freundlich mit ihm fahrest. Dein Weib 
hat schon viel erlitten um seinetwillen, und noch hast 
du ihm nichts gethan: verwirfst du ihn, so soll das 
letzte ärger werden, als das erste, und die Wirklichkeit 
schlimmer, als der Traum. Das ist das erste Zeichen. 
Und da ist Barabbas, ein Mörder, ein Aufrührer. 
Der hat all die Verbrechen wirklich begangen, die sie 
dem Unschuldigen schuld geben. Das ist ein Mensch, 
der nach götilichem und menschlichem Recht den Tod 
verdient hat. Ist es zufällig, daß der mit Jesn vor 
das Gericht kommt, wirklich bloß des Volkes Wille, daß 
er freikommt und der Herr leidet? Nein, wie klingt 
doch aus dem, was da geschieht, das Passionslied wieder: 
„Der Mensch verwirkt den Tod und ist entgangen, Christ 
wird gefangen.“ Wie ist das doch ein Zeichen, daß 
wirklich in der Passion nach Gottes Willen und nach 
seiner Liebe der Gerechte leidet. was die Unaerechten 
verdient. Wir die Empörer wider Gott, die Sünder 
gegen das heilige fünste Gebot in Haß und Groll — 
und der teure Gottessohn, der seine Speise fand darin, 
daß er that den Willen des, der ihn gesandt hat, der 
sich durchs Leben und den Haß hindurchgeliebt, büßt 
anstelle des Barabbas. Kann es wohl deutlicher 
ein, liebes Christenherz, daß er der Erlöser sein soll, 
der sein Blut gibt für viele? Das ist das zweite Zeichen. 
Und da ist Pilatus. Er ist ein ganz charakterloser 
Mensch, einer von denen, wie sie leider in der Christen— 
heit zu tausenden sind, die den Herrn Jesus jahrelang 
können vor Augen haben und sein Wort hören und be— 
ehren sich doch nicht. Sein Händewaschen hat ihn ge— 
viß nicht rein gemacht vor Gott, nicht einmal vor uns. 
Aber mag er sein, wie er will. Das bezeugt er doch, 
daß der Herr unschuldig ist. Er hat ja wohl manchen 
Verbrecher in seinem Leben gesehen, auch solche wohl, 
die da sagten, sie seien unschuldig und waren es nicht. 
Eines Richters Auge wird scharf mit der Zeit und durch 
die Uebung. Von diesem sieht er: Das ist ein Mensch, 
wie keiner. Er antwortet nicht auf alle Anklagen. Er 
hleibt ruhig, in all dem Wogensturm lästernder Stim— 
men ein unbewegter Fels. „Ich bin unschuldig an dem 
Blut dieses Gerechten, da sehet ihr zu!'“ — „Was hat 
er denn Uebels gethan?“ — Ja gewiß, erkannte er ihn 
als gerecht, so ist er ungerecht, daß er ihn nicht frei— 
läßt. Aber hier bestätigt es der Richter über Leben 
ind Tod, die höchste bürgerliche Obrigkeit im Lande: 
Dies ist ein Mensch, an dem die ewige Gerechtigkeit 
Wohlgefallen haben muß, ein unschuldiger und reiner 
Mensch. Das heißt doch in diesem verkehrten und sündigen 
Geschlecht, da Gott vom Himmel schaut, ob einer klug 
sei und nach ihm frage, und findet keinen: Hier ist 
Gottes Sohn. Das ist das dritte Zeichen. 
Und endlich, da ist das Volk. Schon seine Wut: 
Laß ihn kreuzigen! ist ein Zeichen. Des Menschen Zorn 
hut ja nicht, was vor Gott recht ist. So sind 
sie doch dabei, schwere Sünde zu thun. Aber das ist 
noch nichts. „Sein Blut komme über uns und unsere 
Kinder.“ In diesem Augenblick, wo sie das sagen, mag 
der Herr gedacht haben an seine Thränen über Jerusalem, 
mag vor ihm gestanden haben das Bild der zerstörten 
Stadt. Gott gibt jedem, was er will: Gnade den 
Gläubigen, Vergeltung den Ungläubigen, Heil den From— 
men, Unheil den Unfrommen. Ihnen läßt er dies Blut 
als Gericht, wie sie es wollen. Jerusalem fällt unter 
der Römer Hand: was der Hohepriester vermeiden 
wollte durch Jesu Hingabe. daß die Römer kämen und
	        
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