Full text: Der Saar-Freund (7.1926)

Eine entscheidungsreiche Ratssitzung über Saurfragen. 
Ein Veberrumpelungsversuch der Saarregierung. 
In der Presse wurde in diesen Tagen die Tagesordnung 
für die am 8. März beginnende Ratssitzung des Völker⸗ 
bundes veröffentlicht. Danach befinden 18 unter den 
26 Punkten solgende Saarfragen: 
l. Wahl des Präsidenten und der Mitglieder der Regie⸗ 
rungskommission, 
Ausgestaltung der Gendarmerie und Anwesenheit 
französischer Truppen, 
3. Vorbereitung der Vollsabstimmung. 
Berichterstatter für die Saarfragen ist der italienische 
Ratsvertreter Scialoja. Die Beschlußfassung des Völ—⸗ 
kerbundrats besonders über die ersten beiden Punkte haben 
diesmal entscheidende Bedeutung. Aus französischer Quelle 
erhält man jetzt ebenfalls die Bestätigung, daß eine 
Wiederwahldesbisherigen ra rree der 
Saarregierung des französischen Scaatsrats, KRa ult, nicht 
in Frage kommt. Der bekannte französische Abgeord— 
nete Ferry erklärte dieserhalb im Auswärtigen Kammer—⸗ 
ausschuß, „daß der Verlust der Präsidentschaft in der Saar—⸗ 
regierung mit Rüchsicht auf die wirtschaftlichen Interessen 
Frankreichs im Saargebiet als ein Mißerfolg zu werten sei.“ 
Briand soll nach einer Mitteilung des „Avenir“ erwidert 
haben, „daß jetßt auch für andere Mitglieder der Saar— 
regierung die Zeit gekommen sei, den Vorsitz einzunehmen. 
Im Versailler Vertrag habe man nicht die Notwendigkeit 
eines ständigen französischen Vorfitzenden festgelegt. Er, 
Briand, könne daher jetzt nicht darauf bestehen, die Präsi— 
dentschaft immer dem französischen Vertreter zu überlassen.“ 
2. 
Diese Erklärung Briands, wenn sie in dieser Form 
erfolgt sein soll, würde in mehrfacher Beziehung von Be— 
deutung sein. Die Bemerkung, X jetzt auch für andere 
Mitglieder der Saarregierung die Zeit gekommen sei, den 
Vorsitz einzunehmen, läßt sich leicht dahin auslegen, als ob 
man in Frankreich nunmehr keine Bedenken mehr trage, der 
Saarregserung die Erfüllung ihrer Aufgaben unter einem 
ninitangan cen Vorsitzenden zu überlassen, weil, so kann 
man die Worte Briands auffassen, die ununterbrochene sechs— 
I französische Präsidentschaft alle Voraussetzungen ge— 
chaffen hat, das französische Interesse im Saargebiet sicher— 
een Aus den Worten Briands klang trotzdem ein leb— 
aftes Bedauern darüber, daß man in Versailles nicht für 
die Dauer eine französische Präsidentschaft für die Saar— 
regierung festgelegt hat. Festzustellen bleibt aber, daß die 
Saarregierung fur ihre auf 15 — berechnete Ver 
waltungstätigkeit mehr als ein volles Drittel dieser Zeit 
unter französischem Vorsitz stand, so daß, wenn nunmehr ein 
regelmäßiger Wechsel unter den Mitgliedern der Saar— 
regierung eintreten würde, für die übrigen Mitglieder nur 
eine zweijährige Präsidentschaft in Frage kommen könnte. 
Obwohl Briand zugeben muß, daß der Versailler Vertrag 
nicht die Notwendigkeit eines stäüdigen französischen Vor— 
fitzenden vorfieht, findet er trotz der so oft betonten Ver— 
tragstreue und trotz Locarno kein Wort der Entschuldigung 
dafür, daß Frankreich in der Frage der Saarpräsidentschaft 
I on Geiste der Saarstatuütsbestimmungen entsprechend 
andelte. 
Was die Pachfolgeschaft Raults betrifft, so ist 
hierüber eine Entscheidung offenbar noch nicht gefallen. Die 
setzten Nachrichten hinterlassen aber den Eindruck, daß ein 
Franzose für die Präfidentschast diesmal tatsächlich nicht in 
Frage kommt. Miit ziemlicher Bestimmtheit wird, aller 
dings aus englischer Quelle, das kanadische Mitglied, Herr 
Stephens genannt. Herr Stephens selbst hat auf An— 
rage erklärt, „daß er zur Sache nicht im Besitz näherer 
nformationen sei und 0 auch nicht weiter zu der voraus 
chtlichen Kandidatur für die Präsidentichaft der Regie⸗ 
rungskommission äußern könne“. Also diplomatische Re— 
serve, aber kein Dementi. Im Saargebiet scheint man mit 
ziemlicher Sicherheit mit der Ernennung Herrn 
Stephens zum Präsidenten der Saarregie— 
rung pr rechnen. In England bringt man der Frage auch 
arößte Aufmerksamkeit entgegen. Im englischen Unterhaus 
wurde Chamberlain in der Angelegenheit interpellier. 
worauf dieser in seiner bekannten diplomatischen Undurch 
dringlichkeit erklärte: Ich denke, es ist nicht unwahr. 
scheinlich, daß irgendwelche Veränderung vorgeschlagen 
werden wird, die der britische Vertreter bereit sein würde 
zu unterstützen.“ Mit dieser Antwort kann man selbstver— 
ständlich nichts anfangen. 
Neben Herrn Stephens wird in der saarländischen 
Oeffentlichkeit auch Herr Lambert, das belgische Mit— 
glied, als Präsidentschaftskandidat genannt, oder richtiger: 
er hat sich selbst als solcher bezeichnet. Von gut unter⸗ 
richteter Saarbrücker Seite erfährt man jedenfalls daß Herr 
Lambert außerordentliche Anstrengungen macht, um sich den 
Präsidentenposten zu sichern. Er soll erklärt haben, fal1s 
ihnder Völrkerbundsrat nicht mit der Präsi— 
dentschaft betrauen würde, werde er sein 
Amtinder Regierungskommissiondem Rate 
zur Verfäügungestellen. Lambert, der der Regie— 
rungskommission seit ihrem Bestehen angehört, begründet 
seinen Anspruch damit, daß er näch dem Ausscheiden des 
Präsidenten Rault das dienstälteste Kommissionsmitglied sei. 
Die Drohung Herrn Lamberts mit seinem Rücktritt hat 
natürlich im Saargebiet geradezu sensationell gewirkt, man 
war erschüttert — vor Lachen! Herr Lambert, der unent⸗ 
wegte Sekundant des Herrn Rault, denkt offenbar nur an 
eine Person, um die Wünsche und Beschwerden der Saar— 
gebietsbevölkerung hat er sich jedenfalls nicht gekümmert. 
Jedenfalls hat er es nicht verstanden, in der langen Zeit, 
auf die er sich beruft, nicht die gerngite Anstrengung ge⸗ 
nacht, sich das Vertrauen der Bevölkerung zu erwerben. 
Zudem haät Herr Lambert überhaupt keinerlei Anspruch dar⸗ 
auf, etwa noch einmal ernannt zu werden. Nach 8 17 Ab⸗ 
atz 2 des Sagarstatuts werden die Mitglieder des Regie⸗ 
rungsausschusses auf ein Jahr ernannt. Ihr Auftrag 
kanen erneuert werden“. Der LAuftrag des Hexrn Lanmbert 
jst fünfmal erneuert worden, ohne daß er sich in all diesen 
b Jahren irgendwie im Sinne seines Völkerbundsauftrages 
angestrengt hätte. Er war Herrn Rault stets ein unter⸗ 
gebenes Mitglied in der Kommission, ohne auch nur einmal 
den Versuch zu machen, diesem in seiner Verwelschungspolitik 
entgegenzutreten. Im Gegenteil, wo es möglich war, fran⸗— 
zösische gegen saardeutsche Interessen auszuspielen, da hat 
es Herr Lambert mit Fleiß und Ueberzeugung getan. Die 
Frachtvergünstigungen für die Saarkohle, die nach 
Frankreich ypß find sein Werk, die Freikarten 
aller französischen Besatzungsangehörigen 
für die Saarbahnen hat er bis heute aufrecht erhalten und 
un dem Millionendefizit der Saarbahnen 
tecken neben den genannten Tarifausfällen jene Summen, 
die Frankreich bei Truppentransportfen auf den 
Saarbahnen schuldig zu bleiben für richtig hielt. Aus alle— 
dem ergibt sich, daß die Saargebietsbevölkerung gar keinen 
Wert darauf legt, Herrn Lambert als getreuen Vasallen 
Frankreichs wiederum als „neutrales“ Regierungsmitglied 
aufgehängt zu erhalten. 
Daß es im übrigen Zeit ist, die Augen aufzuhalten und 
sich keinen übertriebenen Illusionen hinzugeben, ergibt sich 
aus einer Genfer Meldung des Sozialdemokratischen Parla— 
mentsdienstes, wonach die Saarfragen diesmal gleich zu Be— 
zinn der Ratstagung verhandelt werden sollen. Im Saar— 
gebiet hat man daraus den Schluß gezogen, daß beabsichtigt 
sei, die Saarfragen in Genf zu erledigen, bevor Deutschland 
einen Ratssitz einnehmen und an den Entscheidungen teil— 
nehmen kann. Zu dieser Befürchtung kommt, wenn man 
zewisse Vorgänge beachtet, die mit Punkt 2 der in Genf 
zur Verhandlung stehenden Saarfragen in Verbindung 
tehen. Dieser Punkt, der sich auf die Gendarmerie 
und auf die französische Besatzung bezieht, er— 
hält durch einen Bericht des Präsidenten Rault 
an den Völkerbund eine geradezu sensationelle Be— 
deutung. Der Bericht behandelt die Frage des Aus— 
baues der örtlichen Gendarmerie und berührt dabei auch 
die französische Saarbesatzung. Obwohl 830 des Saar⸗ 
statuts irgendwelchen Heeresdienst verbietet und zur Auf—⸗
	        
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