Jene Kreise aber in Frankreich, die sich über die Ge—
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Wahrheit über Friegaur und Kriegsgiele Frankreichs
kennen, und daher die einzige Möglichkeit, der darin
tiegenden Gejahr zu entziehen, versuchen aus diesem Grunde,
u Deutschland in ein anderes Verhältnis zu kommen. Wir
8 * in Frankreich einkehrende Einsicht zum ersten
Mal sich äußern in Locarno, in noch stärkerem Maße in
Genf und schließlich in abgeschlossener Vertraulichkeit in
Thoiry. Es ist zweifellos erst eine Idee, die eine
greifbaͤre Gestalt. vor allem ein greifbares Ergebnis noch
nicht angenommen hat, eine Idee aber, die als deutsch—
französische Verständigung in den verschiedenen
Abarten in den letzten Wochen hüben und drüben erörtert
worden ist.
Was in Thoiry zwischen Briand und Stresemann be—
sprochen worden läuft, wie es damals in dem gemein—
samen amtlichen Communique hieß, darauf hinaus, „alle
die beiden Länder interessierenden Fragen einer Gesamt⸗
lösung entgegenzuführen.“ Man wollte die zwischen
erird und Frankreich stehenden Streitfragen einer
beide Teile befriedigenden Lösung entgegenführen. um damit
den Weg zu einer deutsch-französischen Verständigung frei zu
machen. Die Hauptschwierigkeiten bieten die Besetzung
deutschen Bodens durch fremde Armeen, die Aufrecht⸗
exhaltung der Abtrennung des Saargebiets, die
Beibehaltung der interalliierten Militärkontrollfkommission
in Deutschland.
In allen drei Fällen handelt es sich um Maßnahmen
lener französischen Politik, die den Krieg vorbereitet, die die
Bestimmungen des Versailler Friedens diktierte, die also das
vor dem Kriege aufgestellte Kriegsziel restlos durchführen
will. Eine deutsch-franzöfische Verständigung im Gesichts-
winkel der Thoiry-Verhandlungen jsetzt also die Aufgabe des
französischen Kriegsziels, die Zerttümmerung und Ver—
stlavung Deutschlands voraus. Man konnte nicht verlangen,
daß man in Frankreich sich plötzlich von der nunmehr fasi
zwei Jahrzehnte verfolgien franzöfischen Kriegspolitik ab—
wandte und für eine Friedenspolitik eintrat, die nicht nur
auf die Ausräumung des Hasses ehcen den beiden
Völkern ausgeht, sondern die Grundlage für einen dauern—
den Frieden in Europa schaffen will. Eine solche Politit
ist in Frankreich um so weniger in kurzer Zeit durchzu—
führen, als die französische Jugend Jahrzehntelang im Haß
gegen Deutschland erzogen worden ist, und auch die heufige
F ogens dieser Hakbropaganda noch immer unterworfen
ei
Wenn man weiter berücksichtigt, daß die französischen
Militärs glauben, mit der Niederwerfung Deuischlands im
Jahre 1918 strategisch die Linie erreicht zu haben, die seit
Jahrhunderten als das Ziel des französischen Imperialismus
galt, dann wird man verstehen, wie schwer es ist, diese selben
Militärs zu veranlassen, ihre angeblich überragende strate-
gische Stellung am Rheine aufzugeben.
Und noch ein drittes, was ebenfalls angedeutet wurde:
„Der Boche zahlt alles“ ist eine Parole geworden, die zu—
nächst nicht so sehr außenpolitische als innenpolitische Be—
deutung für Frankreich hat. Man hat das französische Voll
nach der Niederlegung der deutschen Waffen im Jahte 1018
dadurch zur Ausnutzung des angeblich errungenen Waffen—
sieges aufgerufen, indem man ihm glauben machte, daß ein
hegreiches Volt ein reiches Volf sein müßlte
Unter dieser Massenpsychose hat Poincaré seine Gewali—
politik gegen Deutschland betrieben — um mit gewaltsam
eingezogenen Kriegskontributionen finanzielle Erleichte—
rungen für Frankreich zu beschaffen — hat er innerpolitisch
eine Blüte der französischen Wirtschaft vorgetäuscht, die
eines Tages der kahlen, grauen Wirklichkeit weichen müßte.
In der Ueberzeugung, daß die Geldgeber für den fran⸗
zösischen Kriegsapparat nach errungenem Siege die fran⸗
zösischen Schulden streichen würden, hat man in Frankreich
alles aufgeboten, um das Recht und die Wahrheit durch die
Macht des Geldes und die Gewalt des Materials zu über—
winden. Deutschland sollte alles begahlen. In Versailles
soll man angeblich ernsthaft daeran gedacht haben, Deuisch
land eine Kriegsschuld von 220 Milliarden aufzuerlegen.
Es ist bekannt, daßz um diese Kriegsschutdforderungen der
Entente, vor allem Frankreichs, jahrelang ein erbitterte
Kampf gejührt worden ist, bis sich schließlich die internatit
nale Finanzwelt gegen die phantastischen und Hyjsterische—
Reparationsforderungen Frankreichs durch Nufstellung de
sogenannten Dawesplanes wandte. Damit wurde
diese krankhaften Reparationsforderungen zunächst einme
auf ein enger gefaßtes Maß und auf eine gewisse Regelun
zurückgeführt.
Ob damit die Reparationsfrage endgültig eine Lösu
gefunden hat, erscheint um so fraglicher, als serbst in de
Kreisen der et des Dawes-Planes immer mel
Zweifel entstehen, ob Deutschland in der Lage sein wir
diese Dawes-Verpflichtungen zu erfüllen, und ob die dadur
sestgelegten deutschen Reparationssachleistungen sich nig
immer mehr zu einer drückenden Konkurrenz für die dam
belieferten Laͤnder auswachsen.
So zeigte sich die Lage, als Stresemann und Brian
sich in Thoiry zusammenfanden. um das Wtch sraungösi
Problem zu erörtern. Wäre in beiden Ländern die Ef
kenntnis von der Schicksalverbundenheit beider Völker scho
so weit vorgeschritten, daß man unter Vergangenes eine
Schlußstrich ziehen könnte, um auf völlig neuer Basis de
Gedanken einer deutsch-französischen Verständigung zu e
örtern, dann wäre es nicht allzuschwer, das Problem;
lösen. Dem ist nicht so. Deutschland erblickt
der Aufrechterhaltung der Besatzung a
Rheinnichtnureine Verneinungdes Recht‘
begriffs und der Vertragstreüe, sonder
arsch eine Quelle andauernder Reibungs
flächen zwischen den Völkern beider Ländet
Jane wie Germersheim, Neustadt, Kaiserslautern, Triet
Koblenz usw. sind nur kleine Ausschnitte aus dem Gebie
der Nadelstich-⸗ und Verärgerungspolitik, wo sie heute not
immer am Rhein erfaßt wird. Die Militärkontrollen
Deutschland ist ein Kapitel für sich, das schon an eine
öffentlichen Stkandal grenzt.
Was die Sqarfrage angeht, so stellt sie einen jene
Punbkte der nachkrieglichen internationalen Politik dar, di
den BegriffvonRecht und Gerechtigkeit vol'
kommenhatverlorengehenlassen. Obwohl de
Saargebiet direkt dem Völkerbund untersteht, ist der Be
völkerung bis zum heutigen Tage noch nicht eines der ihn
zugestandenen und garantierten Rechte geworden. Es mu
sich noch immer dagegen wehren, daß es hinsichtlich seine
Selbstbestimmung den Kolonialvölkern nachgeordnet ist, da
es in einer Weise der französischen Aussaugungspolit
— wird, wie es schlimmer kaum gedaächt werde
ann.
Mit seiner Aufnahme in den Völkerbund ist Deutsd
land in die Reihe gleichberechtigter Großstaaten eingetretet
Von dieser Tatsache ausgehend, könnie Deutschland sie
natürlich auf den Standpunkt stellen, daß ihm auf Grum'
dieses Rechts der Anspruch zusteht, eine Behandlung zu er
fahren, die dem Recht der Gieichberechtigung und den
Rechtsempfinden entspricht. Deutschland hat einen An
rug darauf, daß die Militärkontrolle verschwindet, da
ie besetzten Gebiete sofort geräumt und daß in der Saar
frage in eine Nachprüfung der bestehenden Bestimmunge
eingetreten wird. Die machtpolitischen Verhältnisse
Europa lassen es aber zunächst ausgeschlossen erscheinen, da
diesen Rechtsbegriffen gemäh in absehbarer Zeit verfähre
wird. Deutschland muß daher versuchen, auf dem Verhand
lungswege so wiel wie möalich von seinen Rechten azu e
langen.
In Genf hat unter Betonung dieses Gefichtspunkte
Dr. Stresemann das Prinzip vertreten, daß zur Herbeifül
rung einer Verständigung zwischen Deutschland und Franl
reich beide sich zu Opfern bereitfinden müssen. Man ha
daher in Thoiry den Grundsatz aufgestellt, daßz eine vor
geitige Räumung des Rheinlandes und des Saargebieie
von Deutschland durch ein finanzielles Opfer zugunsten de
französischen Frankenstabilisierung erkauft werden sollte
Die Prüfung dieses Gedankens durch die beiderseitigen Sach
verständigen hat argeben, daß eine Regelung sich nich
durch Frankreich und Deutschland allein herbeiführen läht
weil dabei wellpolisische Probleme berußri würden. N