Heft 381928
ein kannst, obwohl du in deinem Briefe aus
Zartgefühl nichts davon erwähntest. Was für
ein prächtiges Haus! Und wie geschmackvoll
ausgestattet! Ist das alles nach deinen An—
ordnungen geschehen?“
„Gewiß, Laura!“
„Ich fühle mich aber doch ein wenig verletzt,
daß du mich nicht zu Rate gezogen hast! Wo
ind meine Zimmer?“
„Deine Zimmer! O — nun —“
Er konnte vor Verlegenheit nicht weiter
prechen.
„Ja, meine Zimmer! Ich hoffe, daß du sie
ebenso geschmackvoll und bequem eingerichtet
jast wie die deinigen.“
Sie nahm Hut und Mantel ab und warf
»eides auf einen Stuhl, worauf sie sich dem
ieuen Baronet gegenübersetzte.
„Wirklich, Laura —' du wolltest dich im
Ernst mit mir bloßstellen? Die Welt würde
darüber sprechen.“
„Nicht länger als eine
Woche, vor deren Ablauf ich
deine Gattin bin.“
Harding hustete verlegen.
Die erste Szene kam, und
zwar so schnell, daß er nicht
vorbereite war; aber er
fühlte, daß er nicht nach—
geben durfte. Er mußte auf
alle Fälle mit Mrs. Kernot
abbrechen.
„Meine liebe Laura,“
agte er, „das ist einfach un—
denkbar. Du bist noch jung
und kannst sehr leicht eine
veit bessere — —
Mrs. Kernot ließ ihn
nicht weiter sprechen. Sie
prang auf und ihre Augen
blitzten, als sie mit erhobener
Stimme rief:
„Ich kenne dich, Regi—
nald; ich weiß, wohin du
strebst! Ich bin seit zwanzig
Jahren deine Shklavin ge—
wesen, habe mich erniedrigt
im deinetwillen, habe ge⸗
„)euchelt und gelogen, und
das alles für dich — und nun willst du mich
nerstoßen?“
„Sei vernünftig, Laura.“
„Du mußt mich heiraten,“ fuhr sie mit einer
Bestimmtheit fort, die ihn zittern machte. „Ver—
chmähe mich, wenn du es wagst, und ich will
dir dein Leben so verbittern, dich so mit
Schmach und Schande überhäufen, daß du nicht
veißt, wo du dich verbergen sallstl!“ —
„Dein Benehmen gäbe mir wenig Hoffnung
auf häuslichen Frieden, wenn ich auch ge—
aeigt wäre, dich zu heiraten.“
„Ich bin ein verzweifelndes Weib und
zämpfe für meine Rechte, durch Heuchelei und
Lüge erworbenen Rechte. Gib mir eine Ant—
wort, Reginald! Ich will es. Wähle zwischen
einer ewigen tötlichen Feindschaft oder —“
„Was sollen diese Vorwürfe, diese
Orohungen?“ begann Harding zögernd.
Er wollte noch einen Versuch machen, die
Ketten zu sprengen, die sie um ihn gelegt hatte.
Mrs. Kernot aber ließ ihn nicht weiter
sprechen. sondern unterbrach ihn.
„Nach der Schicht“
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sichtstun träge die Zeit dahinschlich, da er—
chlaffte ihr Mut, da begann sie ernster und
chwermütiger zu werden, und mächtig wuchs in
hr die Sehnsucht nach der Heimat, nach ihrem
Hatten und ihrem Kinde.
Reynold Lindsay bemerkte diese Veränderung
in ihr mit schwerem Herzen.
Er sah ein, daß er etwas tun müsse, um sie
hrer Schwermut, die einen bedenklichen Grad
inzunehmen drohte, zu entreißen. Seine bis—
herigen Bemühungen, sie aufzuheitern. waren
ruchtlos geblieben.
Eines Abends saß Alice am Fenster ihres
zimmers, scheinbar in den Anblick der unter—
gehenden Sonne versunken, deren letzte Strah—
en ihr bleiches Antlitz mit einem rötlich
lühenden Schein übergossen; aber sie sah nicht
as allmähliche Verschwinden und letzte Auf—
lammen des Feuerballs, das goldige Glühen
es westlichen Horizonts, von dem leichte gold—
und purpurgeränderte Sil—
berwölkchen langsam empor⸗
stiegen; sie beachtete nicht die
Schwalben, die, während
andere Vögel schon ihr
Ruheplätzchen aufgesucht hat⸗
len, noch pfeilschnell die
Lüfte durchkreuzten. Ihre
trüben Augen blickten hinaus
in die Jerne, ohne auf das
zwar täglich wiederkehrende,
aber doch stets wunderbare
Schauspiel der Natur zu
achten — ihre Gedanken
weilten in der Heimat —
bei ihrem Gatten, bei ihrem
Kinde.
An dem anderen Jenster
aß Reynold und sah eben—
alls ins Weite; aber öfters
zehrte sein Blick zurück und
uhte besorgt auf Alice. Als
r endlich sah, wie ihr Auge
mmer trüber, ihr Gesicht
orgenvoller wurde, hielt er
s für angemessen, sie aus
hren Träumereien zu wecken.
„Es ist doch recht einsam
hier,“ sagte er, indem er auf⸗
tand und langsam im Zimmer auf und ab
chritt; „und auch unangenehm ist es, daß wir
zar nicht erfahren, was drüben in England
»orgeht. Wundern muß ich mich, daß mein
Freund Purton noch nicht geschrieben hat.“
„Er wird nichts zu schreiben haben,“ be—
nerkte Alice zerstreut. „Was sollte sich in
»er kurzen Zeit MWesentliches zuaetragen
aben?“
„Es müssen doch weitere Schritte in Betreff
ener geheimnisvollen Tat geschehen sein, von
»enen er uns benachrichtigen könnte.“
„Er weiß aber unsere Adresse nicht. Wir
jaben unseren Aufenthalt so oft gewechselt, daß
in Brief unter der früheren Adresse uns jetzt
hwer finden würde — und das ist gut; denn
yenn Briefe ihren Weg zu uns fänden, so
»ären wir auch vor meinen Verfoölgern nicht
cher.“
„Ich will noch heute abend an ihn schreiben
ind ihm mitteilen, wohin er seine Briefe zu
enden hat: und es wäre gut. Alice, auch Lord
„Noch in dieser Minute verlange ich eine
entscheidung. Deine Vergangenheit,“ sie betonte
iese beiden Worte sehr nachdrücklich, „ist meine
este Bundesgenossin.“
Harding erbebte.
„NRicht weiter!“ rief er. „Du wirst hier
leiben.“
„Und du wirst schon heute die ersten Schritte
zu unserer Verheiratung tun?“
„Ja; aber bedenke, daß ich dadurch arm
leibe.“
„Das wirst du nicht, denn sobald ich Lady
zarding bin, lege ich sechstausend Pfund in
eine Hände.“
Diese Geldsumme imponierte ihm. Er reichte
hr die Hand und schloß sie dann in seine Arme.
„Jetzt kann ich der stolzen Alice unter
zleichen Bedingungen entgegentreten,“ dachte
zieser Teufel in Frauengestalt, „und ich werde
die Macht haben, sie niederzudrücken und sie
——·
Ztenographie für Kinder. In Elberfeld wurde kürzlich der wissenschaftliche Versuch
semacht, sechsijährigen Kindern in der Schule außer der zewöhnlichen Langschrift
Unterricht in der Kurzschrift zu geben. Das Ergebnis war überraschend. Nach vier
Monaten mit täglich /, Stunde Unterricht konnten die sechsjährigen Kinder voll—
zommen lesen und schreiben und schrieben doppelt so schnell wie die Achtjährigen, die
eit 11/0 Jahren Langaschrift-Unterricht hatten. Unser Bild zeiat die Sechslährigen
heim Stenographie-Unterricht
lend in ihr armseliges Dorf, aus dem sie kam,
urückzuschicken. Jetzt bin ich Lady Harding,
ind sie — ein verlassenes, verstoßenes Weib!“
26. Kapitel.
Interessante Neuigkeiten.
Nachdem Mr. Lindsay und Lady Temple
inige Zeit von Ort zu Ort gereist waren,
atten sie sich entschlossen, in einer abgelegenen
leinen Stadt der Normandie zu bleiben, bis
llicens Angelegenheiten in der Heimat geregelt
»aren. Hier hatten sie nicht zu fürchten, von
aglischen Reisenden aufgefunden und erkannt
u werden; und in weiter Umgebung hielten
ich keine englischen Familien auf.
So lange sie sich auf der Reise befanden,
atte die beständige Aufregung, die Abwechslang
nd ihr persönlicher Mut Alice aufrecht er—
alten; nun aber, als sie sich zu einem lang⸗
peiligen Stilleben in einem Städtchen verurteilt
ah, das keinerlei Zerstreuung, nicht einmal die
lnnehmlichkeit anmutiger Spazierwege und
ralerischer Szenerie bot. als in ungewohntem