Full text: Der Saarbergknappe (10 [1929])

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Das Betriebsretegesetz 
Das Streben der Arbeitnehmer war von jeher au, 
Vlitsprache im Betrieb gerichtet. Dieses Streben führte 
über die obligatorischen Arbeiterausschüsse, die auf 
Grund des preußischen Gesetzes vom 14. 7. 65 für den 
Bergbau eingeführt wurden, zum Betriebsrätewesen 
wie es in Ausführung des Artikels 165 der Reichs— 
zeuasung (der Betriebsarbeiterräte vorschreibt), durch 
das Betriebsrätegesetz vom 4. 2. 20 geschaffen wurde 
Grundzug des Betriebsrätegesetzes (BRG.) ist, daß 
es im Arbeiter nicht die Arbeitskraft, sondern den 
Menschen sieht. Dem Menschen Arbeiter eine ihm 
würdige Stellung im Retriebe zuzuweisen, ist seine 
Aufgabe. 
Die wichtigen Betriebsvertretungen, 
die nach dem BRG. errichtet werden können bezw 
vorgeschrieben sind, sind der Betriebsobmann in Be— 
trieben von mehr als 5, aber weniger als 20 Arbeit— 
nehmer und der Betriebsrat in Betrieben, die min 
destens 20 regelmäßig beschäftigte Arbeitnehmer auf 
zuweisen haben. 
Die vorstehend genannten Betriebsvertretungen 
lind gemeinsame Vertretungen der Arbeiter und An 
gestellten des Betriebes. Reben diesen Vertretungen 
die die Gesamtinteressen aller im Betriebe beschäftig— 
ten Arbeitnehmer zu wahren haben, bestehen Sonder— 
vertretungen der einzelnen Gruppen und zwar in Be— 
trieben, jür die ein eeeee errichtet werden muß 
ein Angestellten- und ein Arbeiterrat, die für die 
Sonderinteressen ihrer Gruppen zuständig sind. 
Die Mitglieder des Betriebsrates 
werden nach der direkten und geheimen Verhältnis 
wahl gemett Die Gruppenräte, Arbeiter- und An— 
gestelltenrat, setzen fich aus den Arbeitern bezw. An— 
gestelltenmiigliedern des Betriebsrates zusammen, zu 
denen noch Ergänzungsmitglieder hinzukommen. 
Wahlberechtigt ist jeder Betriebszugehörige der 18 
Jahre alt ist und die bürgerlichen Ehrenrechte besitzt 
Wählbar ist jeder betriebszugehörige Arbeitnehmer 
der 24 Jahre alt, Reichsdeutscher und im Besitz der 
bürgerlichen Ehrenrechte ist, und außerdem 6 Monate 
dem Betrieb sowie 6 Jahre dem Beruf angehört. 
Die Aufgaben des Betriebsrates 
sind teils sozial-, teils wirtschaftspolitischer Natur 
Sozialpolitisch haben sie die Aufgabe, die Interessen 
der Arbeitnehmerschaft gegenüber dem Arbeitgeber zu 
wahren. Es gehört insbesondere zur Aufgabe der 
Betriebsvertretung für Erhaltung des Arbeits 
lriedens Sorge zu tragen) 
1. Durch Entgegennahme von Veschwerden und Ab 
stellung der Mißjtände auf dem Verhandlungs 
wege. 
2. Durch den Abschluß von Betriebsvereinbarungen 
Labeitkotduung) und Ueberwachung derselben 
3. Durch Anrufung des Schlichtungsausschusses falls 
keine Einigung zu erzielen war. 
Wirtjchaftspolitisch haben sie die Aufgabe, „Ein 
IAuß auf Betriebsleitung und Leistung zu nehmen 
us einem willenlosen Werkzeug der Produktion soll 
der Arbeiter zu einem verantwortungs- und arbeits 
freudigen Mitglied der Produktion werden.“ (Be 
gründung zum BRG.) 
Wirtijchaftspolitijch hat der Betriebsrat eine be 
zatende und eine kontrollierende Tätigkeit. 
Die beratende Tätigkeit erschöpft sich in den 
Beratung der Betriebsleitung zum Zwecke der Stei— 
gerung der Betriebsleistung insbesondere bei der Ein 
sührung neuer Arbeitsmethoden. 
Wichtiger als die beratende ist 
die kontrollierende Tätigkleit 
des Betriebsrates. So hat der Arbeitgeber dem Be 
driebsrat Auskunfit zu erteilen. 
1. über alle Betriebsvorgänge, die die Tätigkeit der 
Arbeitnehmer und deren Arbeitsvertrag be— 
rühren; 
er muß Lohnbücher und Unterlagen vorlegen, die 
dij Durchführung der Tarifverträge erkennen 
assen; 
über den Gang und die Lage des Unternehmens 
sowie des Gewerbes im allgemeinen wie auch 
über den zukünftigen Arbeitsbedarf hat der Ar— 
beitgeber alle Vierteljahr Bericht zu erstatten. 
Der Betriebsrat hat unter gewissen Bedingungen 
das Recht a Vorlegung und Erläuterung der jähr— 
lichen Betriebsbilanz und einer Gewinn- und Ver 
lustrechnung. Weiter hat der Betriebsrat das Recht 
auf Entsendung von 1 oder 2 Mitgliedern in den Auf 
sichtsrat. 
Mit Ausnahme der wirtschaftspolitischen Aufgaben 
at 
1 
der Gruppenrat 
jast dieselben Aufgaben wie der Betriebstat. Jedoch 
beschränkt sich die Auigabenerfüllung auf die Inter— 
essenwahrung der Arbeiter oder Angestelltengruppe. 
Daneben hat der Gruppenrat noch besondere Auf 
gaben. So die Mitwirkung bei der Regelung der 
Löhne, besonders der Atkkorde und Bedingungsgrund 
ätze, loweit sie nicht durch Tarifvertrag der betrieb— 
lichen Regelung entzogen sind. Der Gruppenrat haft 
in Mitwirkunagsrtecht bei jeder einzelnen Vestrafung 
„Der SaarBerglunapper Nummer 43 
15 3 — —— 2 77 XCXCTEC. — — — 
eines Arbeitnehmers seiner Gruppe sowohl was Art keit der Kündigung oder Anspruch auf eine Abfin— 
und Höhe der Strafe anbelangt. Ohne Zustimmung dungssumme sein 
des Gruppenrates ist eine verhängte Strafe unwirk Um die Mitglieder der Betriebsvertretung vor 
am. willkürlicher Paendien durch den Arbeitgeber zu 
ichti 9 5 — chützen. ist ihnen ein besonderer Schutz gewährt. Sc 
A⸗ witzuoltes RNeoht hnt ver —T.X kann Mitgliedern der Betriebsvertrefsung nur mit 
Mitwirlungsrecht bei Einstellung und Entlassung Zustimmung der Betriebsvertretung der Arbeitsver— 
»er Arbeiter seiner Gruppe. —F e dedene — 
x as Betriebsrätegesetz bi it seinen verschiede— 
Zun ächst lann der Gruppentat für die Einstellung nen —S— 4. seltene Gelegenheit I Ein— 
»on Arbeitnehmern gewisse Richtlinien mit dem Ar sichtnahme und Einftuüßnahme auf den Wieischafto— 
zeitgeber vereinbaren, deren Einhaltung gerichtlich beirieb. Mit der Mögüchkeit der Einsichtnahme und 
»xrzwungen werden kann. Einflußnahme ist es jedoch noch nicht getan soll sick 
Bei der Entlassung handelt es sich um die Mit- die Hoffnung der Schöpser des Gesetzes erfüllen 
rirkung des Gruüppenrates bei dem Einspruchsver- Wesentlich für die Wirkung des Gesetzes ist, daß wir 
fahren nach 884 BRG. Der 8 84 gibt dem Arbeiter haraktervolle und mit Verständnis für die wirtschaft: 
das Recht, falls er seinen Arbeitsvertrag zu Unrecht ichen Tatsachen begabte Menschen bekommen. Dann 
gekündigt glaubt, beim Gruppenrat Einspruch gegen jt ein wesentlicher Schritt zur Demokratifierung der 
die Kündigung zu erheben. Die Folge des Einspruchs Wirtschaft und zur Standwerdung der Arbeiterschaf 
alls er berechtigt ist, kann entweder Wirkungslosig zetan. W. K. 
Ie sutlithe Chatulter der bbziusberscherun 
In oem heißen Kampfe um die Sozialversicherung der 
durch nut manchestetlich eingestellle Wirtschaflskreise im 
Reiche entsacht wurde und schon allerübelste Blüten getrie. 
»en hat, haben sich auch aufrechte Menschen, deren Namen 
klang hat, nebst wichtigen Körperschaften neben die Ge⸗ 
verkschaften gestellt, um mit ihnen den entfachten Kampf 
erfolgreich abzuwehren. Zu diesen aufrechten Menschen 
gehört in —— Linie Ministerialdirektor Or. Grieser, 
der seit Jahren im Reichsarbeitsministerlum erfolgreich 
wirkt, und dem getade wir Saarbergleute auch manches 
zu danken haben. Er hat vor einiger Zeit in einem Rund— 
unkvortrag über den stitlichen Chatakter der Sozialversiche⸗ 
rung äußerst werkvolle Gedanken geäußert, die wir in 
brem Kern unseren Mitlgliedern nicht vorenthalten dürfen. 
Besonders aber empfehlen wir die Aussuührungen den 
Rilchtarbeitern zum Studium. Gerade 8 wetden 
a so heitß umworben, in die Front gegen die Sozial 
versicherung einzuschwenken. Wer die Ausführungen Grie 
ers genau studiert hat und noch eine fühlende Seele hat 
vird sich nimmer vor den Karren derer spannen lassen, die 
er Sozialversicherung Krieg und Verderben angesagl haben 
Die Redaklion. 
Arbeiter wurde die Freiheit des Individuums zug 
Dangergeschenk. In den großen Städten und den In— 
zustriebezirken gerieten die Arbeitermassen, weil un 
Aientiert und hilflos, in unbeschreibliches Elend 
Die Zahl der Unternehmer, die im Innern noch eint 
Berpflichtung zur patriarchalischen Fürsorge verspür— 
en, wurde immer geringer, die Erinnerung an die 
schicksalsmäßige Verbundenheit von Unternehmern 
uind Arbeitern begann zu verblassen, das Gemein— 
schaftsgefühl geriet in die Gefahr der Verschüttung 
Die einzige Hilfe war Karitas und Armenpilege. das 
Waisenhaus und das Siechenheim. 
Was lag näher, als daß unter dem Drucke des 
Elends bei den Arbeitern das Gefühl der Gemein— 
chaft der Gesahr und der Not geweckt wurde? Die 
Hasse erwachte zur Klasse und suchte zu ihrer Er— 
haltung neue Lebensformen. Der Gemeinschaftsge 
danke erlebte in der Sozialversicherung seine Wieder 
geburt. Die Versicherungsträger vereinigten in sich 
die Arbeiter und ihre Arbeitgeber zur gemeinschaft 
lichen Tragung der wirtschaftlichen Gefahren aus 
Krankheit und Unfall, Arbeitslosigkeit und Inva— 
lidität, aus Alter und Tod. In gewissem Sinne ist 
die Sozialversicherung das glückliche Erbe jenes In⸗ 
dividualismus —, ein Ergebnis, das mit den Fehlerr 
des Systems wieder versöhnt. 
Die Sozialversicherung wurzelt im 
natürlichen Rechte der Arbeiter, 
auch bei ungünstigen Wechselfällen in der Arbeit un 
im täglichen Leben Mensch zu bleiben. Sie ist orga 
nisierte Selbsthilfe auf Gegenseitig 
teit, in ihr hilft der eine dem anderen, der Gesunde 
dem Kranken, der Junge dem Alten, der Starke dem 
Schwachen, der Glückliche dem Unglücklichen, der Le 
dige dem Kinderreichen. Die ganz überwiegende Zahl 
der Krankenkassen gewährt auch den Angehörigen 
der Versicherten Krankenpflege und stuft das Kran 
kengeld nach dem Familienstande ab. Die Wochen 
hilfe erhält nicht bloß die werktätige Frau, sonderr 
auch die Frau des Versicherten. Alle Renten ent 
halten Zuschüsse für die Kinder; der Zuschuß beträgt 
in der Invaliden- und Angestelltenversicherung 10 
RM. im Monat. Mag auch der Familienschutz, den 
die Sozialversicherung gewährt, nur äußere Fürsorge 
sein, er ist mittelbar ein Beitrag zur Erneuerung 
der Familie und Erneuerung des Volkstums. Be 
der Züricher Tagung der Internationalen Vereini— 
qaung für sozialen Fortschritt erntete Deutschland da 
für die ungeteilte Anerkennung. 
Im April d. J. haben internationale Sachver— 
tändige der sozialen Medizin bestätigt, daß die deut 
sche Versicherung jeden Versicherungsfall organisch 
umfaßt; in der Gesamtheit seiner Beziehungen, in der 
Ursache und Folge, im Zusammenhang mit dem Be— 
triebe, in der Verflechtung mit den äußeren Um 
tänden und in der Wirkung auf die Umgebung 
Dieser Auffassung entsprechen auch die Maßnahmen 
in der Versicherung, die heilenden und wirtschaftli— 
chen, das vorbeugende Wirken, die Aufklärung, Be 
lehrung und Veratung. Die deutsche Versicherung hat 
den weiten Weg von der Medizin zur Hygiene zu— 
rückgelegt. Aus der ursprünglichen Spargenteinschaf 
wurde zugleich eine Erziehungsgemeinschaft. 
kine Gemeinschaft gibt Redte, sie begründet abe 
auch Verbindlichkeiten. 
Bloßer Zwang läßt kalt, gegenseitige Pflicht will 
anerkannt und bejaht, tief empfunden und willig 
getragen sein. An Energie, die Sünden gegen den 
Hemeinschaftsgeist zu bekämpfen, fehlt es nicht. Miß 
bräuche hängen nicht bloß an der Sozialversicherung 
fie hängen an allen ähnlichen Einrichtungen. In der 
Steuergemeinschaft wird der Staat auch nicht immer 
mit vollendeter Ehrlichkeit bedient. Mißbräuche treten 
zurück. je mehr der Versicherungsbetrieb wie ein 
Fdamilienbetrieb auigefaßt wird, bei dem keiner mehr 
ist als der andere, bei dem jeder für den anderer 
derantwortlich ist 
In der Sogzialversicherung sind Maß und Grenze 
eitbedingt. Da die sozialen und wirtschaftlichen Bil 
er wechseln, werden zwischen Bedürfnissen und Mög 
lichkeiten, zwischen Arbeit und Kapital immer Rei 
bungen entstehen. Das ist kein Unglück: auch in der 
Sozialpolitik setzt sich Reibung in Bewegung' und 
Fortschritt um Mit der Sorge um die gesünde Ent— 
wicklung der Wirtschaft ist echtes soziales Bewußt 
sein vereinbar. 
Im letzten Jahre sind aber auch grundsätzlich— 
ßegner der Sozialversicherung aufgetaucht. Philoso 
phen und Aerzte behaupten, die Versicherung töte den 
Sparsinn, züchte den Versicherungsbetrug und ver— 
derbe die Sittlichkeit des Volkes. Schriften und Reden 
solchen Inhaltes finden in Deutschland, dem Mutter 
boden der Sozialversicherung, nur eine kleine Ge— 
meinde. Um so aufmerksamer ist das Ohr des nicht 
Janz unterrichteten Auslandes. In Frankreich 
Belgien, Finnland z. B. schmieden Industrielle und 
Aerzte aus deutschen Kundgebungen Wafien gegen 
die Einführung der Sozialversicherung in ihrem 
Lande. Dieses zwingt zu einem aufklärenden Wort 
über den sittlichen Charakter unserer 
VBersicherung. Die Wirtschaft hat zudem ein 
wichtiges Interesse an der Erweiterung des deutschen 
Lersichetungsrechts zum Weltversicheruͤngsrecht 
Maßgebend ist 
die Natur der Dinge. 
Mit fast gesetzlicher Regelmäßigkeit wiederholen sich 
bei der Arbeit Krankheit und Unfall, Arbeitslosig⸗ 
keit und Siechtum. Im Durchschnitt wird jeder zweife 
Arbeiter einmal im Jahre krank und für etwa 24 
Tage arbeitsunfähig. Am höchsten ist die 
Krankheitsgefahr im Bergbau, am ge 
geringsten in der Landwirtschaft. Im Jahre 1926 
rreigneten sich in dem Gewerbe und der Landwirt 
schaft 1,4 Millionen Arbeitsunfälle; jeder neunte 
Unfall hat eine dauernde Erwerbsstörung im Ge— 
solge. Am 1. Januar 1928 waren 1,9 Millionen Ar 
beitsinvaliden, 400000 Witwen und 730 000 Ar— 
heiterwaisen vorhanden. Für die Arbeiterschaft ist die 
Arbeitslasigkeit ein unheimliches Gespenst. Jede 
-cchwankung auf dem Weltmarkte zittert in der Ar 
beiterwohnung nach. 
Die grundsätzlichen Gegner der Sozialversicherung 
derweisen die Arbeiter zum Schutz gegen diese Wech— 
elfälle auf die persönliche Selbsthilfe und verlangen 
insofern die Rückkeht zu den Lehren des sogenanuien 
Individualismus. 
Vor der Sozialversicherung waren Wirtschaft und 
Gesellschaft vom Individualismus beherricht. 
Dieser suchte den Fortschritt und den Aufschwung 
n der Pflege des Individuums, verkündete die Frei 
zeit der Wirtschaft und entfesselte damit hemmungs. 
oses Streben nach Erwerb und Gewinn. Die Ge— 
ellschaft löste sich in Konkurrenten auf, die einen 
rbitterten Kampft uns Dasein führten. Für die
	        
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