Full text: Der Saarbergknappe (3 [1922])

Aummer 44 Saarbrücken, den 4. November 1922 
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Organ des Gewerkyerneins christl. Bergarbeiter Deutschlands für das Saargebiet 
ẽc e cca Samẽtag, für die Mitglieder gratis. — Geschaftas Saar⸗B r 
Preis: für — — d ie bene Sar —— vebung — qanienene e 5 Sarbriccnee 
Votenlohn, für Postabonnenden 5400 VDet. diertellähruch es Bergarbeiterstandes Fernsprech-Auschluß: Amt Saarbrücken, Nummer 1830. 
Sahrgang 8 
Volkswirtschaft und Gewerkschaften 
Von Fr. Baltrusch 
Ursprünglich erblickten die Gewerkschafteñ ihre 
Hauptaufgabe nur in, der Erzielung guter Lohn⸗ und 
Arbeitsbedingungen, in der Förderung des Arbeiler. 
schutzes und in dem Ausbau der Versicherungsgesetz 
gebung. Sie richteten ihr Augenmerk in erfter Linit 
darauf, den größtmöglichsten Anteil am Produktions 
ertrag für ihre Mitglieder zu sichern. Die einzelnen 
Berufsverbände hatten dabei natürlich nur den Ge 
werbezweig im Auge, aus dem heraus sie die 
Arbeitnehmer organisiert hatten. Sie kummerten sich 
bestenfalls in ihrem Gewerbe noch um die Frage, wie 
der Produktionsprozeß sich vollzog, bzw. vollziehen 
sollte. Auch die Spißen der Gewerkschaften, bei den 
hristlichen Gewerkschaften z. B. der Gesamtverband, 
hielten sich im großen und ganzen in dem bezeichneten 
engen Rahmen ihres Aufgabengebietes. Allerdings 
bersuchte die Führung des Gesamtverbandes dar 
christlichen Gewerkschaflen ein breiteres Tätigkeitt 
gebiet zuzuweisen. Man beschäftigte sich z. B. in einer 
Reihe von Versammlungen mit dem Thema „Dit 
Stellung der christlichen Gewerkschaften zum Staat 
zum Unternehmertum, zur Religion und Politik“. 
Hierbei bekannte man sich als freudige Bejaher des 
Staatsgedankens. An der Spitze des Reiches, bzw. 
EStaates dachte man sich damals ein soziales, aus⸗ 
gleichendes Kaiser⸗ und Königtum. Mit dem Unter⸗ 
nehmertum hätten die Arbeitnehmer zwar mancherlei 
solidarische Interessen, so z. B.waren Unternehmer 
und Arbeiter daran intereffiert, daß der Betrieb, in 
dem der eine sein Geld und seine geistige und physisch 
Tätigkeit einsetzt. floriere und' Gewinn abwerfe 
Anderseits beständen aber auch gegensätzliche Inter 
essen, und zwar dort, wo es sich um die beiderseitige 
Beanteiligung an dem Produktionseffekt und um die 
Festsetzung der Arbeitszeit und Arbeitsbedingunger 
handelt. Auf religiösem Gebiet erklaͤrten sich die 
hristlichen Gewerkschaflen neutral in dem Sinne, daf 
sie Angehörige der christlichen Konfessionen in sick 
schließen, die Bewegung selbst aber nach den großen 
Richtlinien christlicher Weltanschauung im Gegensat 
su den materialistisch orientierten sogenannten 
ofreien“ Gewertkschaften führten. Die christliche Aufctf- 
sung der Mitglieder sollte nicht nur durch die Bewegung 
und ihre Selbständigkeit geschützt, sondern auch geför 
Lert werden. Hinsichtlich der Poritik skizzierte man die 
Stellungnahme so, daß Angehörige aller nichtsoziali⸗ 
stischen Parteien als Mitglieder aufgenommen und 
gehalten werden konnten. Das ist auch heute im 
großen und ganzen noch alles richtig. Bezüglich der 
Volkswirtschaft und ihres Systems machte man fich 
bvor dem Kriege in allen Gewerkschaften keine allzu— 
große Sorgen. Die freien Gewerkschaften verlangten 
zwar mit den sozialistischen Parteien, die mit ihnen 
zum größten Teil-in Personalunion fianden und noch 
stehen, die Beseitigung der kapitalistischen Wirtschafts 
weise und ihren Ersatz durch die sozialistische nach 
arl Marxschem Muster. Ueber die Durchführung 
diesez Systems im einzelnen machte mean sich im 
sozialdemokrotischen Lager vor dem Kriege nicht allzu⸗ 
große Kopfschmerzen. Die cristlichen Gewerkschaften 
brangen damals ebenfalls in das Wesen der Volks. 
wirtschaft nicht zu fiark ein. Ihre moßgebende, 
Führer bekämpften die Auswüchse des Kapitalismut 
und wollten das System selbst durch eine gut durch 
8 Sozialreform und Arbeiterschutzgesetzgebung 
milhern. 
es ist ohne Zweifel, die Gewerlichaften und inson 
derheit die chriftlichen Gewerkschaften. ee 
J Gebiete der Verbesserung der Ar. 
eitsbedingungen vieles erreicht. Sie 
haben auch dauernd nominell wachfende Löhne erzielt. 
Auch waren sie starke und erfolgreiche Antreiber für 
bie Durchführung sozialer Maßnahmen und Gesetze 
Im Staat und in der Wirtschaft aber war der Ein 
fluß nicht sehr stark. Milt der Zeit aber weitete sick 
der Blick der Gewerkschaften. auch für die Staats— 
aufgaben und insonderheit für ihrt Aufgaben in der 
Volkswirtschaft. Sie betrachteten nicht mehr aus 
schließlich die 17nmäkilade s638 36 Loh 
ines, sondern die Kaufkraft desselben. Diese Der Artikel 165 der deutschen Reichsverfassung, der 
instellung mußte fie unbedingt dazu führen, daß den Aufbau eines wirtschaftlichen Rätesystems in der 
die einzelnen Berufsverbände nicht mehr nur ihr gesamten Volkswirtschaft vorsieht, wurde geschaffen, 
Augenmerk ihrer Industrie oder ihrem Gewerbe zu das Betriebsrätegesetz kam heraus und heute sitzen in 
vandten, sondern der ganzen Volkswirlschaft, denr den Aufsichtsräten der Werke auf Grund des oöͤffent⸗ 
die Kaufkraft des Lohnes haͤngt mit ihrer Gestaltung chen Rechts auch die Vertreter der Arbeitnehmer 
hrem Gedeihen und Gebaren auf das Engste zusam. Unterdessen wuchs sich auch mit der fortschreitenden 
men. Nach und nach gelang es den Gewerkschaften Organisierung der Wirtschaftszweige das Mitbestim⸗ 
in das komplizierte Getriebe der gesamten Volkswirt mungsrecht der gewerkschaftlich organisierten Arbeit⸗ 
schaft tieferen Einblick zu gewinnen. Die Gewerk nehmer in den zentraleren Stellen aus. Es entstanden 
schaften erkannten die Wichtigkeit der Produrk die Selbstwirtschaftskörper, wie z. B. der Eisenwirt 
tionsintensität. Die sozialistische Richtung schaftsbund, der Reichskohien⸗ und Reichskalirat, der 
hatte unter dem Einfluß ihrer Vartei in der Haupt Weiallwirtjchaftsbund, die Außenhandelsstellen usw. 
sache ihr Augenmerk auf die Verteilung des die alle parilätisch zusammengesetzt sind. In der Zen 
tralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerb 
lichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands und 
in der Zentralarbeitsgemeinschaft der deutschen Land⸗ 
wirtschaft sitzen heute die Führer der Industrie und 
Landwirtschaft mit den gewerkschaftlichen Arbeitneh 
mervertreter zusammen und versuchen gemeinsam die 
jetzt in Deutschland besonders schwierig gewordenen 
Probleme der deutschen Wirtschaft zu bosen. Ebenso 
sitzen heute Arbeiter in einer Reihe wichtiger Syndi 
kate, und zwar in der Leitung derselben. Die Arbeit 
ehmer richten auch ihr Augenmerk auf die Durch 
»rganisierung der Bezirkswirtschaftsräte und der Ein⸗ 
führung des definitiven Reichswirtschaftsrates. Ein 
vorläufiger Reichswirtschafisrat, zusammengesetzt 
durch die verschiedensten Berufsorganisationen und 
unter Mitwirkung der Reichs- und Landesregierun 
gen, besteht bereits. In diesem Reichswirtschaftsra 
iind die gewerkschaftlichen Arbeitnehmer in starker 
zahl vertreten. Jetzt gilt es, in erster Linie, auch in 
n schon fest organisierten, allein von den Unter— 
nehmern beherrschten Unterbau der deutschen Wirt 
schaft, in die Landwirtschafts,- Handwerks- und Ge— 
werbekammern als aleidberechtigte Mitalieder hinein 
zukommen. 
Vachdem die Gewerkschaften nunniehr nach, und nach 
auch in die Volkswirtschaft insgesamt sowie in die 
einzelnen Berufsgruppen gleichberechtigt eingegliedert 
werden, tragen sie natürlich auch in höherem Maße 
die Mitverantwortung für das Funktionieren 
der deutschen Wirtschaft und insbesondere für die 
notwendige Produktionssteigerung, von deren Ergeb⸗ 
nis es abhängt, ob wir über die jetzige ungeheure 
Gefahrenzone ohne vernichtende Erschütterungen und 
ohne Gefährdung der Einheit des Reiches und des 
Volkes hinwegkommen. 
Die Gewerkschaften haben sich neuerdings auch mit 
dem Problem der Sicherung des Produk 
tionsertrages fürdas Volk, als Folge des 
Waffenstillstandes und des Friedensdiktates zu be— 
schüftigen. Der Waffenstillstand und der „Versailler 
Vertrag“ haben uns teils zu einmaligen und teils 
zu dauernden Leistungen (Reparationen) verpflichtet 
die den Abfluß eines gewaltigen Teiles des Produk 
tionsergebnisses ins Ausland ohne Gegenleistung nack 
iich ziehen. Die Sachleistungs und die „Erfüllungs 
dolitik“ überhaupt, kann ohne die Gewerkschaften nich 
durchgeführt werden. 
Mit der steigenden Not kommt für die Gewert— 
schaften zu den schon genannten Problemen noch ein 
neues hinzu: Die rationelle Gestaltung 
der gesamten nationalen Produktion, 
1d. h. das Problem der Vermehrung der notwendigen 
und nützlichen Produktion auf stosten der überflünssi 
gen und unnützen Produktion. Diese Frage ist eine 
der wichtigsten und weittragendsten. Sie ist besonders 
wegen des sich stets stärker bemerkbar machenden 
Gruppenegoismus für die Gewerkschaften eine sehr 
schwer zu lösende Frage. Die finanzielle Beteili. 
zung der christlichen Gewerkschaften an der Produk. 
tion direkt durch die Verbände und indirekt durch die 
enossenschaften, hat ihren Anfang genommen, sie 
wird weitergreifen. Die Gewerkschaftler wollen die 
Mitwirkung und Selbsthilfe, auch durch Einsatz eigene! 
größerer Kapitalien durch die Verbinde, umnad 
und nach Einfluß auf die Produktion obr— 
Broduktionsergebnisses gerichtet. Man 
dersprach sich von der „Verteilung des Reichtums der 
Kapitalisten“ — wissenschaftlich ausgedrückt von der 
Verteilung des „Mehrwertes“ — in sogzialistischer 
Kreisen alles Heil. Die christlichen Gewerkschafter 
kämpften gegen diese einseitige unhaltbare Auffassungç 
schon seit längerer Zeit an, und wiesen durch ein 
jgehende Studien hervorragender Mitarbeiter der 
christlichen Gewerkschaften auf die Begrenzt« 
Jeit der wirtschaftlichen Ergebnisse hin und kamen 
damit zum Problem der Produktionssteige 
rung. Das Verteilungsproblem verlor demgegen⸗ 
iber nicht an Wichtigkeit und es hat auch heute noch 
ir die Erfüllung der vornehmsten gewerkschaftlichen 
sufgaben seine Bedeutung nicht eingebüßt, aber es 
»or seine alles beherrschende Stellung im gewerk 
chaftlichen Denken. 
Um der Lösung weiterer Grundprobleme näherzu⸗ 
kommen, fand eine neuere Form der Beeinflussung 
er Wirtschaft Eingang in das gewerkschaftliche Stre⸗ 
zen: das Mitbestimmungsrecht, und zwai 
var in der ersten Zeit der jungen Erkenntnis zunãchst 
das Streben nach Mitbestimmung in den ostntui 
zechtlichen Stellen. wo über wirischaftliche Gesamt⸗ 
'omplexe entschieden wird. Man suchte Einfluß im 
keichsstag, in den Landtagen, in den Ministerien und 
n den kommunalen Körperschaften zu gewinnen, und 
vährend der Kriegszeit gelangten die Gewerkschaften 
n dieser Hinsicht falsächlich zu starkem Einfluß, und 
var sowohl im Reichstage wie in den Minisierien 
eriegsämtern und Kriegsgesellschaften. 
Als mit der Revolution der Betriebsrätegedanken 
‚um Durchbruch kam cdie christlichen Gewerkschaften 
hatten bereits im Arbeiterausschuß- und Arbeilskam— 
merwesen wertvolle Vorarbeit geleistet), nahmen die 
Zewerkschaften den Gedanken auf. Damit kam in ihr 
Programm auch das Streben nach Mitbestim 
nungsrechtindeneinzelnen Betrieben 
zunächst wurde die Umwandlung der wilden Räte 
irtschaft in eine gesetzliche Instisution beweristellid
	        
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