steht er unter dem Kreuz mit Jesu Mutter. Und
dann nach des Heilands Auferstehung und Himmel—
fahrt ist er mit seinem feinen Stift sein Biograph
geworden und hat mit der Feder in der Hand alle
die Wege noch einmal durchmessen, die er mit dem
Heiland gehen durfte durch Höhen und Tiefen. Wenn
er es da so in der Stille überdachte, was er
auf seiner begnadeten Erdenfahrt in den drei Jahren
an Jesu Seite erlebt hatte, da kam ihm das Ge—
fühl, als fiele es ihm mehr und mehr wie Schup—
pen von den Augen. Ihm erklärte sich nun
die geheime Scheu, die ihn auf seinen Jünger—
pfaden immer belastet hatte. Jetzt wird es ihm
klar, wie damals durch die irdische Hülle des Hei—
lands seine Göttlichkeit hindurch gestrahlt hat — und
so schreibt er es denn in sein Evangelium „Das
Worte ward Fleisch und wohnte unter uns, wir
sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des
eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und
Wahrheit. Und aus seiner Fülle haben wir alle
genommen Gnade um Gnade.“ Und aus der persön—
lichen Liebeserkenntnis an der Seite dieses Menschen—
freundes drängt sich ihm in seinen Briefen immer
wieder die Mahnung auf die Lippen: „Kindlein,
liebet Euch untereinander! Daran wird man
erkennen, daß Ihr meine Jünger seid, daß Ihr Liebe
untereinander übet. Lasset uns Ihn lieben, denn
er hat uns zuerst geliebt.“ So hat er selbst dem
Heiland gedient bis ins hohe Greisenalter hinein.
Nach des Petrus und Paulus Märtyrertod über—⸗
nimmt er als Missionar die Pflege der klein—
asiatischen Gemeinde, wird dann vom Kaiser Domi⸗
tian auf die einsame Felseninsel Patmos verbannt,
wo er hundertjährig als letzter Zeuge der großen
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