Der 28. Juli 1870.
Vollen Ernst schienen die Franzosen machen zu wollen, als sie am
28. Juli gegen 3 Uhr nachmittags sich anschickten, gerade als unter Blitz
und Donner die Schleusen des himmels sich öffneten, von ihren höhen
von Spichern aus plötzlich unsern hochgelegenen Exerzierplatz mit Granaten
zu beschießen.
War schon durch die Kriegserklärung und die Mobilmachung keinerlei
Unterbrechung im Schulbetrieb des Gymnasiums eingetreten, so brachte,
wie uns herr Geheimer Baurat Brandt so fesselnd erzählt, diese patriotisch
erregte Zeit sogar in einem Sache, horaz, die Notwendigkeit besonders
angestrengten Arbeitens.
Der alte, gemütliche Professor Schröter, bei dem wir bis dahin den
horaz lasen, hatte in der Begeisterung für seinen Schriftsteller das Lesen,
Erklären und Übersetzen der Oden stets selbst übernommen und uns fast
jede Vorbereitung erspart; nun wurde er alt, und etwa Mitte Juli wurde
der Hhoraz⸗Unterricht in Prima in die hände eines jüngeren, tatkräftigen
herrn, Oberlehrer v. Velsen, gelegt. Dieser — ob mit oder ohne Kenntnis
von der Art des bisherigen Hhoraz-⸗Betriebes, lasse ich dahingestellt — über⸗
raschte uns sofort mit der Erklärung, er wolle zunächst zur Wiederholung
die bisher bei herrn Prof. S.... durchgenommenen Oden (wenn ich
nicht irre, Buch J und den Anfang von Buch IIh) „kursorisch“ durchnehmen,
d. h. es sollten die Oden nur lateinisch gelesen und ohne jede weitere
Erklärung fließend übersetzt werden. Wir Primaner kamen überein, durch
möglichst weitgehendes Präparieren unsere mangelhaften Kenntnisse zu ver—
bergen und zu verbessern, und einige Unterrichtsstunden ging auch alles
gut. Am 28. Juli aber verlief diese kursorische Durchnahme so glatt, daß
ich, gegen Ende der Unterrichtsstunde aufgerufen, mich einer Ode gegen—
über sah, auf die ich mich nicht sehr vorbereitet hatte, und die ich bei
ihrem ungewöhnlichen Versmaß kaum lesen, geschweige denn übersetzen konnte.
War herr v. V. schon bei meinem mangelhaften Lesen der Ode stutzig
geworden, so wurde sein Gesicht immer länger bei meinen wiederholten
und stets mißglüchenden Anfängen zum Übersetzen. Es stand nicht nur
für mich persönlich der Kuf eines leidlichen CLateiners auf dem Spiel, viel
schlimmer war die Blamage für die ganze Klasse, denn die Wahrheit über
die frühere Art des Hhoraz⸗Betriebes hätte sich wohl nicht länger verheim—
lichen lassen. Es war mir höchst unbehaglich zu Mute, denn leider hatte
ich mich gestern verleiten lassen, mit einigen Kameraden einen Bummel zu
machen, anstatt horaz weiter zu präparieren. Zwar hoffte ich, unbehelligt
zu bleiben. Doch eben, da diese Hoffnung im herzen sich wie eine Blume am
Morgen entfalten will, ruft mich Herr v. V. auf. Grenzenloses Erstaunen
über die unerwartete Wendung bringt eine fürchterliche Verwirrung in