227
Memoiren
der Bräfin Guise von Vltweiler, verh. Filcher.
1819.
Euch zu Liebe, Ihr teuren Hinterlassenen meiner einzigen
geliebten Schwester, und der Aufforderung Eures verehrten
Vaters gemäß, unternehme ich eine Arbeit, die beinahe meine
Kräfte übersteigt; Euch allein sei daher auch der schwache Ver—
juch zugeeignet, der aus vielen Ursachen die Öffentlichkeit zu
scheuen hätte, worunter diese nicht die kleinste ist, daß ich für
alles, was ich erzählen werde, keinen Beweis führen könnte; was
ich nicht selbst erlebte, ist mir nur durch mündliche Tradition zu—
gekommen und die meisten der Gewährsmänner, die ich anführen
möchte, sind längst verstummt! Doch Ihr werdet der Stimme
der Wahrheit, die aus diesen Zeilen spricht, vertrauen. Der
zweifache Zweck dieser Blätter ist, 1) Euch, Ihr Lieben, wenn Ihr
ilter geworden, Kunde zu geben von dem Fürstenstamme, dem
Eure theure Mutter und die Tante Loulou, deren Ihr Euch
hierbei freundlich erinnern möget, entsprossen; 2) aus der treuen
Darstellung der Thatsachen den Grund herzuleiten, wie in wenig
Jahrzehnten ein so reich blühender Stamm beinahe ganz spurlos
untergehen konnte! Noch- muß ich als höchst nötiges Vorwort
»emerken, daß die letzten vierzig Jahre unserer Zeitrechnung in
den Sitten und Ansichten solch einen ungeheuren Unterschied hervor—
gebracht haben, daß manche Gemälde, die ich darzustellen mich
bemühen werde, jetzt ganz unwahrscheinlich erscheinen müssen; auf
diese Bemerkung werde ich besonders mich berufen beim Anfange
der Geschichte meiner Mutter; für's erste muß ich bei einer früheren
Periode beginnen, ein für allemal erinnernd, daß ich manche Jahres—
zahlen nicht genau anzugeben vermag, da ich zuvörderst bloß
aus dem Gedächtnis längst verklungene Sagen niederschreibe, die
mir meine Großmutter mütterlicher Seite in meiner frühen
Kindheit erzählte.
Der Großvater meines Vaters besaß die ganzen oberrheinischen
Nassauischen Erbländer und teilte sie unter seine 3 Söhne in dem
Maße, daß der Aelteste mit dem Titel Fürst von Nassau—