„Es iſt mir eine beſondere Ehre, Sie, Herr Superintendent, und Sie, Herr
Doktor, in meiner Gemeinde empfangen zu dürfen. Treten Sie ein in mein
Haus und nehmen Sie vorlieb mit dem wenigen, mit dem ich Jhnen, meine
Herren, dienen kann.“
„Gott zum Gruße, Herr Kollege,“ erwiderte leutſelig der Herr Superus,
„und vielen Dank für die freundliche Aufnahme! So laßt uns denn zuerſt ein
wenig verſhnaufen und frühſtücken, um dann mit friſchen Kräften die Viſi-
tation, wie ſie uns aufgetragen iſt, vorzunehmen.“
Wie geſagt, ſo getan. Ein kräftiges Früh ſtellte das durch die Fahrt
doch etwas in Unordnung geratene leibliche Wohlbehagen wieder her und da-
mit -- eine alte Erfahrung -- auch eine größere Vertraulichkeit zwiſchen Gaſt-
geber und Beſuchern.
Aus dem Wohnzimmer konnte man bequem die Straße überblicken. Es
war ein erfreulicher Anblick, der ſich dort dem Herrn Superintendenten bot;
zahlreiche Kir<hgänger, Männer, Frauen und Kinder aus Dudweiler und Sulz-
bach, welche Dörfer dazumalen noch eine Kirchengemeinde bildeten, brachten
mit ihrem Gehen und Shwaßen Leben in die Morgenſtille. Beſonders lebhaft
ging heute das Gerede hin und wider, da man doch die Prüfung durch die Ver-
treter eines hohen Konſiſtoriums zu beſtehen hatte. Auch überlegten ſich Bitt
und Schorſch und da der Lui und Karel, ob man nicht etzliche Beſchwerden über
den Pfarrer oder irgendwelche Zuſtände in der Gemeinde vorbringen könnte.
Nun ſetzten die Glocken ein, und unter ihrem Geläute begaben ſich der
Pfarrherr und ſeine Gäſte im Ornat zum Gotteshaus, das ſie vollbeſetzt vor-
fanden. Bald nahm der Gottesdienſt ſeinen Anfang. Man ſang einige Lieder.
Der Pfarrer hatte ſich einen ſchönen Text herausgeſuht, über den er in beſter
Weiſe ſprechen konnte, nämlich den Spruch: „Fürchtet Gott! Ehret den König!
Habt die Brüder lieb!“ Darüber ließ ſich gar ſchön predigen. Allein ſchon die
vorgeſchriebene Dreiteilung ergab ſich ganz von ſelbſt. Und dann: welche Fülle
von Gedanken flog einem zu! Daß und wie Gott zu fürchten und zu ehren ſei,
wurde in der verſchiedenſten Weiſe eindringlich dargetan. Auch der zweite Teil,
in dem ausgeführt wurde, daß das angeſtammte Herrſcherhaus in würdiger
Weiſe zu achten und dem Landesherrn ſtets zu gehoren ſei, gab reichlichen
Redeſtoff. Und nun ging es zum dritten Teil, der beſonders ſorgfältig be-
handelt werden mußte, da es nicht nur galt, einen formvollendeten, packenden
Schluß zu finden, ſondern auch no<h dies und jenes zur bevorſtehenden Prü-
fung zu ſagen. So redete denn der Herr Pfarrer fein und lieblich daher, daß
wir alleſamt Fehler hätten und troß aller Mühe doch noh vieles zu tun übrig
bliebe. Auch im Beruf. Gewiß ſollten wir dann einander darauf aufmerkſam
machen. Jedoch „in allem die Liebe“ ſpüren laſſen. Beſonders ſollten ſich die-
jenigen, die kraft ihres Amtes den andern übergeordnet ſeien, ihr Amt nicht
mißbrauchen, ſondern etwa auszuſprechenden Tadel anbringen, ohne den Ge-
tadelten zu verlezen. Aber auch die andern, ſo irgendjemanden unterſtellt
ſeien, ſollten ihrem Führer und Vorgeſetzten Verſtändnis genug entgegen-
bringen, um von ihm gemachte Fehler, ſo ſolche vorkämen, nicht ungerecht und
zu hart zu beurteilen.
Die Dudweiler guckten verſhmißt die Sulzbacher an. Die Herren aus
Saarbrücken lächelten einander verſtändnisinnig zu. Und ſo wurde denn die
Predigt glücklich und mit ſchwungvoll vorgetragenem Schlußwort zu Ende ge-
führt. Ein Choral beſchloß den eigentlichen Gottesdienſt.
. Jeßt begann der unbehaglichere Teil der Viſitation, den möglichſt zu
mildern, die deutlich ausgeſprohene Abſicht der Predigt war. Der Herr Supe-
rus trat vor den Altar und wies kurz auf die Bedeutung des heutigen Tages
hin: es ſei feſtzuſtellen, ob die Gemeinde in religiöſer Hinſicht hieb- und ſtich-
feft ſei, ob die Herde und ihr Seelenhirt ihren Verpflichtungen nachgekommen
eien, welche Klagen vorhanden und inwiefern dieſe berechtigt ſeien. Der Herr
Pfarrer möge beginnen und die Gemeinde examinieren und zwar zunächſt über
das „Vater unſer“, ſodann über die einzelnen Hauptſtücke und endlich über die
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