Saarkalender für das Jahr 1929
Es geſchehen noch Wunder! Meine Freundin Kathinka reiſt viel und telephoniert
viel. Sie hat zwar das Schreiben gelernt, aber sie macht keinen Gebrauch mehr davon.
Es iſt in unserem Zeitalter überflüssig, findet Kathinka. Sie schickt meiſt Depeſchen.
Kürze iſt des Witzes Seele. Ihre Depeschen haben schon viel Unheil angerichtet und vielen
Menſchen den Schlaf geraubt. Ich selbſt habe einmal eine ganze Pension in Stuttgart mit
Kathinkas nächtlichen Depeſchen nervös gemacht. Es kam nämlich eine Depesche mitten in
der Nacht an, der Portier wurde aus dem Schlaf geſcheucht, das Zimmermädchen, das mir
die Depeſche brachte, blieb voll Mitleid an der Türe stehen, um auf die Wirkung der De-
peſche zu warten. Es wird doch keiner geſtorben sein, meinte das mitleidige Zimmer-
mädchen. Aber das Telegramm lautete ſchlicht: Kann erſt im Oktober kommen. Und da-
mals war es Mai. —~ Seitdem nehme ich Kathinkas Depeſschen nicht mehr tragiſch.
So hatte sie mir plötzlich, nachdem ich längere Zeit nichts mehr von ihr gehört hatte ~
sie war im Oktober auch nicht gekommen = ein Telegramm nach Saarbrücken gesandt:
Erwarte Dich 12 Uhr in wichtiger Angelegenheit, Bahnhof.
Es war 6 Uhr, als das Haus von dem Depeſchenboten aus dem Bett geläutet wurde.
Ich ging natürlich um 12 Uhr zum Bahnhof. Aber keine Kathinka erſchien. Und in Saar-
brücken laufen um 12 Uhr mittags viele Züge ein. Als ich heimkam, fand ich eine zweite
Depesche vor: Habe Datum verwechselt. Ankomme erſt morgen D-Zug München.
Am nächsten Tag ſtehe ich wieder am Bahnhof in Erwartung wichtiger Dinge ~
Kathinkas Leben verläuft sehr aufregend und dramatisch – für alle Beteiligten und auch
Unbeteiligten, oft auch für sie selbſt. Ich war sehr geſpannt auf das neue Kapitel, das sich
mir zwiſchen zwei D-Zügen entrollen würde. Der Zug iſt sehr lang. Keine Kathinka zu
sehen. Ich laufe den ganzen Zug ab. Niemand kommt. Und nachdem er fortgefahren ist,
gehe ich heim. Diesmal war ich ſehr böse, denn es waren 30 Grad im Schatten.
Drei Tage ſpäter erhalte ich einen Eilbrief von Kathinka aus Oberammergau: wes-
halb biſt Du nicht am Zug geweſsen? Auf Dich kann man ſich nie verlaſſen. Ich hatte Dir
meinen Alt-Frankenthaler Schwan übergeben wollen, der so kostbar ist, daß ich ihn nicht
in meiner Wohnung lassen kann und ihn erſt recht nicht der Poſt anvertrauen kann. Ich
hatte Dir doch zwei Depeschen geschickt. Als ich durch Saarbrücken kam, warſt Du nicht
da. Hoffentlich hat der Junge die Schachtel richtig abgeliefert. Hebe mir meinen Schwan
nur gut auf, am besten tue ihn gleich in einen Safe.
Ich war starr + vernichtet + bestürzt, denn es hatte sich weder ein Junge noch eine
Schachtel mit einem Frankenthaler Schwan bei mir eingefunden. Also auf zur Polizei.
Nichts zu machen, sagt der Gestrenge. Wie sah der Junge aus? Weiß ich nicht. Ich jage
zum Fundbüro. Bahnhof. Der Wärter zuckt die Achseln. Er weiß von nichts. Hat keine
Schachtel mit einem Schwan gesehen, kein Junge hat etwas abgegeben. Ich bin erschlagen.
Wer löſt dieses Myſterium? Da ~ schon im Fortgehen + erblicke ich eine mir wohl-
bekannte Hutſchachtel – weiß mit lila Streifen . . . Was iſt denn das für eine Schachtel,
frage ich. Ach, die Schachtel, sagt der Beamte und zeigt mit dem Federhalter in die Ecke.
So e Huttſchachtel mit ebbes Schwärem drin > die ſteht schon seit drei Tag do. Die han
ich vor dem Wartesaal 4. Klasse gefunn, da hat sie eener ſtehen gelaßt. Ich weeß nich, was
do drin is und wem ſie geheert. Mache Sie sie nur emohl uff. Ich tats. ~ Es geschehen
doch noch Wunder im 20. Jahrhundert, denn in dieser Hutſchachtel befand ſich, in weißes
Seidenpapier gehüllt, wohlbewahrt und unversehrt –~ Kathinkas kostbarer Frankenthaler
Schwan, der drei Tage auf dem Bahnsteig in Saarbrücken verwaiſt geſtanden hatte, wo
ihn der Junge, nachdem er seinen Botenlohn eingesteckt hatte, ſtehen ließ.
Liebe und Apfeltörtchen. Ein Konditor aus Saarbrücken starrte betrübt den Haufen
Apfeltörtchen auf seinem Ladentisch an. Das Geschäft war in den letzten Tagen flau ge-
wesen und auch die Törtchen drohten alt zu werden. Da fiel ihm ein Plan ein, den er
unverzüglich ins Werk setzte. Er schickte folgende Anzeige in die „Saarbrücker Zeitung“;
„Aufrichtig gemeinter Heiratsantrag. Ein junger Mann von angenehmem Aeußern und
in den beſten Vermögensverhältnissen wünſcht die Bekanntschaft einer Dame zu machen,
die er geeignetenfalles zu seiner Gattin machen möchte. Auf Schönheit und Reichtum wird
weniger gesehen, als auf einen guten Charakter und liebenswürdige Manieren. Junge
Damen, die geneigt sind, ihm ihr Los anzuvertrauen, werden gebeten, ſich nachmittags um
3 Uhr in der Konditorei L . . . . einzufinden. Erkennungszeichen Apfeltörtchen.“ um 1/4
Uhr waren sämtliche Apfelkuchen verkauft.
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