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Saarkalender für das Jahr 1928
„Die Inſel der Seligen.“
Einige Proben aus der Praxis des Völkerbundes im Saargebiet.
Don Dr. Georg Krauſe-Wichmann.
Noch heute beklagen sich französische Männer von Ruf über die Undankbarkeit dez
Saargebiets, das die „Befreiung vom preußischen Joch“ durch das edelmütige Frankreich -
nicht anerkennen wolle. Es trifft zu, daß uns die Franzoſen von allen Rechten .,befreit“
haben, deren ſich sonst der Bürger in den zivilisierten Ländern erfreut. Und dies Vorgehen
führte mit der politiſchen Entrechtung auch naturgemäß zu einer enormen Verſchlechterung
der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen gegenüber den Verhältnissen in
Teutſchland. Die absolutiſtiſche Machtvollkommenheit der französiſch eingestellten Saar-
regierung hatte und hat nur ein Ziel, Frankreich auf Kosten des Saarlandes zu bereichern.
Sie duldet es, daß die französischen Saargruben, die mit ihren 78 000 Arbeitern das
bedeutendste und ſsteuerkräftigſte Wirtschaftsunternehmen des Saargebiets darstellen, nur
% der nach dem Versailler Vertrag pflichtigen Steuern an den Saarfiskus abführen.
Zwar iſt der betrügeriſche Vertrag, den die Regierungskommiſssion über die Steuerleistung
der Gruben mit dem französiſchen Staat abſchloß, zum 1. April 1928 gekündigt worden,
aber es iſt keinerlei Anhaltspunkt dafür gegeben, daß der von den politiſchen Parteien
seit Jahren bekämpfte verhängnisvolle Steuerbetrug jetzt endlich in Uebereinstimmung
mit dem Versailler Vertrag beseitigt wird.
Der enorme Einnahmenausfall muß durch vermehrte Beſteuerung der Bevöläerung
wieder hereingeholt werden. Dazu kommt die Belaſtung infolge der unsinnig hohen
Kosten für die Unterhaltung der lächerlichen Kopie eines modernen Staates mit fünſ
Ministerien, Obersſtem Gerichtshof uſw. in einem Gebiet von der Einwohnerzahl Kölns.
das früher (wenn man von dem kleinen pfälziſchen Teil absſieht) von dem Regierungs-
präsidenten in Trier nebenher mitverwaltet wurde. Allein die Zollverwaltung verjchliugi
. für das unglückselige Ländchen 35 Prozent aller Zolleinnahmen, im Reich durchschnittlich
15 Prozent. Die selbſtändig gemachten Saarbahnen, losgelöſt von dem deutſchen Strecken-
netz, arbeiten mit Defizit, das durch die ſkrupelloſe Gewährung von unter den Selbſt-
hoſten liegenden Vorzugstarifen für den Transport der französſiſchen Saarkohlen nacz
Frankreich zum Schaden der Bevölkerung noch vermehrt wird. Es iſt daher kein Wunder,
daß die steuerliche Belaſtung der Bevölkerung im Verhältnis zu ihrem Einkommen um
vieles höher iſt als in jede.n andern Land, selbst in Deutschland, obwohl das Saargebiet
keine Reparationen zu tragen hat.
In Deutschland ſind ~ und dies eine Beiſpiel iſt charakteriſtiſch für den ,„„Fortſchritit“
im Saargebiet – hundert Mark monatlichen Einkommens ſteuerfrei, im Saargebiet
dagegen nur 48 Mark. Für einen Verheirateten mit vier Kindern erhöht ſich im Saar-
gebiet die steuerfreie Grenze auf 124 Mark, im Reich dagegen auf 240 Mark. (Vor dem
1. Mai 1927 lag die saarländische Steuergrenze sogar noch 30 Prozent niedriger; Mittc
1926 betrug sie 35 Mark, vorher sſogar nur 20 Mark monatlich.)
Dies bedeutet, daß der größte Teil der Arbeitersſchast, der drüben im Reich wegen
seines niedrigen Einkommens überhaupt einkommenſteuerfrei wäre, im Saargebiet eine
ganz erhebliche direkte Besteuerung über sich ergehen laſſen muß. – Eine recht bittere
Illuſtration der „wirkſamen Regierung des Völkerbundes“, zugleich charakteristisch fuc
die Beschaffenheit der „kostbaren“ Freiheit, die Frankreich mit Hilfe des Völkerbundes
den bisher „un t erj o cht en“ Saarländern gebracht hat.
Ebenſo hcch wie einerseits die Ansprüche sind, die seitens der Völkerbundsregierung
an die Saarbevölkerung gestellt werden, so niedrig sind andererseits – verglichen mit
dem übrigen Deutschland — die Gegenleiſtungen der Regierungskommiſssion. Als geradezu
kläglich müsſen die Verhältnisſe auf dem Gebiet der Sozialpolitik, insbesondere der
Sozialversicherung bezeichnet werden, obwohl man annehmen ſollte, daß der Völkerbund
beſtrebi wäre, wenigstens auf dieſem neutralen Gebiet etwas zu leiſten. Bis zum heutigen
Tage beſteht beispielsweise noch kein obligatoriſches Schlichtungsverfahren im Saargebiet,
was, da Frankreich als Besitzer der Saargruben es überdies ablehnt, überhaupt an Schlich-
tungsverhandlungen des amtlichen Schlichtungsausſchusses teilzunehmen, im Jahre 1921:
hei dem tostägiues. Bergarbeiterſtreik eine außerordentlich ſchwere Schädigung der Saar-
wirtſchaſt herbeiführte.
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