Saarkalender für das Jahr 1926
Der graue Star.
Nach Ansicht des Schleppers „Zweickerfrit“ (ſo nannten ihn seine Kameraden) gab es keine
ſchönere, feinere menschliche Geſichtszierde, als einen hübſchen Kneifer, einerlei, ob er nötig
war oder nicht. Ein schöner Zwicker auf. der Nase dünkte ihn der Stempel eines feinen, ge-
bildeten Menschen, und in ſscheuer Ehrfurcht und mit ungeteiltem Intereſſe blickte er zu be-
zwickerten Menschen empor. Da der Zwickerfrit – nebenbei bemerkt – ein häülbſcher Kerl war
uad mit seinem äußeren Menſchen auch] gern imponierte, namentlich bei dem ſchönen Ge-
ſchlechte, hielt er es im Interesse einer erhöhten Aufmerksamkeit und Würdigung seiner Perſon
für angebracht, im Privatleben einen ſchwarzumrandeten Kneifer zu tragen. In der Grube
freilich trug er ihn nich. Wozu auch, hier sah man die Geſichtszierde ja doch nicht. Der
Partiemann, ein Knappe von wderbem Schrot und Korn, erfuhr von der Paſſion seines
sSchleppers, und um ihm die für seinen Beruf so notwendige, ungeschmälerte Sehkraft der
Augen zu erhalten, ermahnte er den Zwickerfritz: „Du bischt e ganz verrickter Hanswurſcht.
Mit Deiner Stabtbrill verderbſcht Du D'r dei R ...aue, es Du ſchließlich kä Kuh meh vom -
e jPerd kannſcht unnerſcheide. Ich erlewe 's noch, es Du de groh (graue) Star an die
IAue griſcht.“ [Aber derartige wohlgemeinte Matſchläge prallten an [der Eitelkeit unseres
„Zwickerfrig“ wirkungslos ab. fDer Partiemann, um [bas wMWoljlergeheen seines (Schleppers
beſorgt. plante eine Heilung von der „dumm Idee“ desselben mit Liſt und teilte den Kameraden
ſein Vorhaben mit, das allgemeine freudige Zuſtimmung fand. An einem Mittwoch Nachmittag
traf das [Frühldrittel, zu dem auch Zwickerfritz gehörte, im „Goldenen Faß“ zusammen. ſFritz,
der sich um des Wirtes Töchterlein anscheinend mit wenig Erfolg bemühte, mit der nie
fehlenden Geſsichtsgiende. Man plauderte über alles mögliche und kam auch zufällig auf
den grauen Star zu sprechen, woſbei der Partiemann erwähnte, diese gefürchtete Krankheit
könne plötzüchh eintreten und gur plötzlichen Erblindung führen, wenn z. /B. [die Außen
wurch verkehrte Behandlung stark überanſtrengt werden. Diese Aeußerung schien Eindruck auf
Fritz zu machen, wenigstens ließ sein halb fragender, halb ängstlicher Ausdruck dies vermuten.
Etwa eine halbe Stunde nach diesem Geſprächsthema ließ der Partiemann wie durch Zufall,
nachdem er seinen Kameraden zugeblinzelt, einen Schlüssel unter den Tisch fallen. Eilfertig
bücite sich Fritz unter den Tiſch und suchte hier im Dämmerlicht den Schlüſssel. Diesen Augen-
. bick benutzten zwei Kameraden ~ die Sache war mit dem Wirt abgekartet – um die dichten
ſFen.ſterläden plötzlich geräuſchlos zu schlließen und das Zimmer in ägyptische Finſternis zu hüllen.
War unserm JZwickerfritz dieſe plötzliche Finsternis ein unlösbares Rätsel, ſo wurde ihm die
Sache noch rätselhafter, als er keine Unterbrechung in der Unterhaltung und in der Tätigkeit
der Kartenspieler wahrnahm. „Du haſchd jo e Kart zuvill“, hörte er einen Kameraden ſagen und
jetzt gar den Wirt, zum Partiemann gewandt, „Na, Pitter, wie gefällt Dir der Vogel da? Däne
hann ich in der Stadt ausstoppe gelosſt‘. Unsern Schlepper packte eine namenloſe Angst. Alles
ſah, bloß er nicht. Zitternd nahm er den Kneifer ab, aber auch so vermochte er nichts zu
erkennen. Ein markersſchütternder Schrei tönte durch das Wirtslokal. „Ich hann ide groh Star!
Ich ſiehn nimmeh!“ jammerte Fritz. „Was, Du ssiehſt nimneh? Mach doch kä Ulk, Fritz, die
Dämmerung is jo erſcht angelbroch.“ ~ „Ich han de groh Star! „,Ich sſiehn nimmeh!“ jammerte
der unglückliche [Schlepper weiter. Alles gab sein Bedauern über dieſes Mißgeschick dem Unglück-
lichen zu erkennen. Einer der Kameraden, der eine eigens zu diesem Zwecke mitgenommene
Rußmischung bei sich hatte, beſchwichtigte Fritz „es is noch nit alles verlor, Fritz; ich hann do
e Mittel bei mir, das helft, wanns gleich angewandt wird." Und unter der Hilfeleistung der
Kameraden wurde das Mittel auf die Augenlider und Stirn aufgetragen und dann die Augen ver-
bunden. „So in 'r Viertelstunde kann das helfe, bleib so lang ruhig hucke.“ Unterdessen wurden
die Läden geöffnet. Fritz bvütet dumpf vor sich hin, wälhhvend die Kamieraden, sich beluſtigend
gublingelnd, die Unterhaltung fortsetzen. Als nach einer Viertelſtunde ldie Binde gelöst wurde,
ließ [Fritz einen Freudenſchrei erſchallen, der dem Schmerzensſchrei an Stärke mindeſtens
gleichkanr. „Gott ſei Dank“, atmete er auf, „mei Lewe kommt m’r das Ding do nimme uf die
Nas'“. Und [der Zwicker lag in Scherben am Boden. Als dann die Partie den Heimweg antrat
~ Fritz klkneiferlos, aber mit rußgeschwärztem Gesichte – kam ihm die Abenddämmerung ſo
ſchön vor wie nie zuvor. Alles lachte ihn an, wer ihm auf der Straße begegnete. Sellbſt die
erſten Dorfſchönen begrüßten ihn heute ohne Kneifer mit dem, freundlichſten Lachen. Ganz ſicher
geſtcltete das wiedererlangte Glück die Welt in so roſigem Lichte. Als eben ein Junge ihn
mit „Ho, ho, Du Schorsſchtefeger“ begrüßte, bemerkte der Partiemann: „Fritz, diort mwiäſch Dich
an dem Brunne, Du haſcht das Heilmittel noch uf de Aue!“ ~– Fritz hatte den Wert quter
Augen durch beit scheinbaren Verluſt schätzen gelernt und war geitlebens von seiner Kneifere
Eitelkeit geheilt.
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