Saarkalender für das Jahr 1925
Heran an die Wahrheit, dicht heran, und wenn sie aussieht wie des Teufels Groß- I
mutter! Wie weit iſt man aber drüben im Reiche von- dieser harten Notwendigkeit |
entfernt! Wie zu Armins Zeiten zerfleischt man sich gegenseitig in kleinlichem Partei-. |
hader, kein Sichſelbſtfinden, kein Blick für das Ganze hebt sich aus Wettern und Wirren.
„Newyork World“ trifft den Ker1 der deutschen Frage mit wenig Worten. Das Blatt |
urteilt: „Zu bedauern bleibt. der Mangel an Einigkeit und höheren Zielen. Wenigſtens
könnte Deutschland der Welt ein besseres Schauspiel bieten, als das Bild unaufhörlichen
Parteienstreits und Schacherns um unwesentliche Einzelheiten des Besteuerungs-, Lohn-
und Profitwesens. Das Reich kann nicht viel tun, um sich selbſt zu helfen, es kann
Frankreich. weder Widerstand leiſten. noch ſich loskaufen. Aber zum mindesten könnte |
es Herr seiner eigenen Seele bleiben, sich selbſt zu entscheidendem Entschluß auf-
raffen und der Welt einen gewiſſen Grund zu der Ueberzeugung geben, daß die deutſche
Nation noch Wirklichkeit iſt.! Das würde ein Stahlbad der Gesundung, nicht aber der |
unentwirrbare Knäuel kurzſichtiger, gehäſſiger Parteipolitik. ~ „Ein jeglich Reich, ſo in |
ihm selber uneins iſt, wird wüste!“ Das iſt eim Bibelwort und ewige Wahrheit! Wie .
niederdrückend wirkte auf uns der Aufmarsch von nicht weniger als 28 Parteien zur |
Reichstagswahl. Da liegt die Notgemeinschaft noch weit, weit in der Ferne. Solche Ritte
i1 der politiſchen Arena fordern nur den Spott heraus: :
„Zu wenia Reden und Betenner,
Es sind erſt dann genug Partei’n,
Wenn alle deutschen Fraun und Männer
Im Reichstag durcheinander ſschrei’'n!“
„Gold trennt und Armut eint!“ Die Notenpresse hat jeglichen Wohlſtand zertrümmert;
wir sind alle arm geworden wie eine Kirchenmaus + die Rentenmark zeigt es uns
bettelarm. Laßt uns also gemeinsam das Los der Armut tragen, das ketaen Freund
hat als das Elend und die Hoffnung, ihn loszuwerden. Der Luxus zielloſer Uneinigkeit
darf das Reich nicht weiter begleiten; wollen wir in dem Hexenkessel bitterſten 'Schick-
sals nicht untergehen, ſo müssen wir ſseelenſtark mit vereinten Kräften ringen. Und
Deutschland hat Geiſt und Arme; will es ernst, ſo wird das Feuer des unglücks uns von
den Schlacken des Eigennutzes befreien und aus gemeinsamer Not endlich der Traum
unserer Väter erfüllt, Deutschland in Wahrheit uad Wirklichkeit eine Nation. Dann iſt
die Zukunft unser, mit ihr das Siegfriedsreich.
Verzweifeln nicht und nicht verzagen!
So tief im Unglück auch das Land;
Es soll die alte Kraft uns finden
Zu neuem Bau mit ſtarker Hand.
Wenn iede deutsche Seele wieder
ren cs t t füßlen,
So grünt des Friedens edle Saat.
Wollt ihr der Leſe würdig werden,
Bleibt treu und fest in Not und Plag,
Dann quillt aus heil'gaem Mrutterſchoßke
Der große deutsche Erntetag. L ;
In der Heimat iſt es schön! Das alte, liebe Lied hat seinen Klang verloren für das
heutige Saarrevier, das Armenhaus des Völkerbundes. Wo ist seine Wirtſchaftsblüte, der
Wohlstand der Bevölkerung geblieben! Wo ſeine politischen Freiheiten, die feſte Grundlage '
bürgerlichen Lebens: die bewundernswerte Ordnung, das Gefühl der Sicherheit dahin,
dahin! Handel und Wandel ſind todkrank, sie liegen in einer Krisſis, die mit jedem
Monat gefahrdrohender wird. Die Industrie kämpft ums liebe Leben. Arbeitslosigkeit,
Teuerung, Wohnungselend in erſchreckendem Ausmaße, unersſchwingliche Steuerlalſten,
kurz. alles vereinigt sich, um das Wort des bekannten Geſchichtsphiloſophen Spengler
zu’ bewahrheiten: Der Frangoſe könne nirgends etwas aufbauen, wohin er auch komme,
wo er es auch verſuche, mit ihm erſcheine der Verfall des Landes! Die Geſchichte der |
letzten Jahre des Saarreviers werden immer als ein ſchlagendes Beispiel für iene
Behauptung gelten dürfen, denn bisher war die fraazöſische Vorherrschaft in der Regie- |
rungskommission offenkundig, wie die Fühlung mit Paris in Genf zugegeben werden
mußte. Für die Haltung des Präſidenten Rault brachte ebenfalls dort des Rätsels Lösung
ſeine Erklärung, daß er sich im Saargebiet als Delegierter Frankreichs fühle und auh
für die Wohlfahrt der Bevölkerung zu sorgen habe. „Vor Tische las man's anders!“ Bei
seinem Amtsantritt hieß es, er fühle sich nicht mehr als Beamter Frankreichs, ſondern
als Beauftragter vom Völkerbund. Wir wollen nicht mit Worten rechten, Tatſache .
36