Full text: 1924 (0002)

  
Saarkalender für das Jahr 1924. 
Die Veilchen-Lies. 
Von Theod. Schmidt-Saarbrücken. 
In den ſtillen Dorfgärten blühten die erſten 
Schneeglöckchen. Leiſes Lenzhoffen ging über 
die Höhen und durch die einſamen Dörfchen 
droben und hinab ins Tal. 
Dort lag die große laute Stadt. 
Die hörte den Klang nicht, den die Winde ihr 
!tUen von Vorfrühling und erſten Leng- 
üten. 
In den Schaufenſtern ihrer Blumenhand- 
lungen lachte ein immer dauernder Blumen- 
frühling. Dort auch blühten schon seit Wochen 
die Schneeglöckchen. In langgeſstielten, vollen 
Sträußen lugten sie unter zartweißem Flieder, 
leuchtenden Azalleen und üppigen Südroſsen be- 
ſcheiden aus ihren Gläsern hervor. 
Aber etwas Fremdes blickte aus den weißen 
Blütenſternen. Wie die großblütigen, duft- 
ſchwachen Riviera-Veilchen ihnen zur Seite, 
waren auch ſie Südlandskinder, aus sſonnigeren 
Gestaden dem deutſchen Frühling vorangeeilt. 
Die erſten Schneeglöckchen der frühlings- 
träumenden Heimat und mit ihnen ein Stück- 
lein Poeſie des heckenumhegten, heimlichtrauten 
Dorfgartens brachte s i e in die Großſtadt, die 
„Veilchen-Lies“. 
Sie war ein ſtadtbekanntes Blumenmädchen. 
Doch nicht ein jugendfriſches Kind mit raoſig- 
zarten Wangen, ſonnigen Blauaugen und 
rotem, dem warmen Leben zaghaft entgegen- 
knoſpenden Mund. 
Zweiundachtzig Jahre trug sie auf ihrem 
krummen, tiefgebeugten Rücken. Tauſend Fält- 
chen und Runzeln bedeckten das welke Geſsicht 
mit dem zahnloſen Mund. Schlohweiß ſchauten 
zwei lichte Haarwellen unter der Seidenhaube 
hervor. Und an den zitternden Händen waren 
die lkyrunzetigen Finger krumm und stumpf von 
rbeit. 
Doch. ein immer sonniges Lächeln spielte in 
den Zügen der Greiſin. Die tiefversſöhnliche 
s ile des Alters ſah aus dem freundlichen 
uge. 
. Beim erſten Regen des Vorfrühlings pflückte 
ſie in den Beeten ihres Gartens die frierenden 
Schneeglöckchen und band sie mit einem grünen 
Efeublatt in Sträußchen. Sträußchen an Sträuß- 
chen im Henkelkorb nebeneinander gereiht, 
wanderte ſie dann von ihrem ſtillen Dörfchen 
tn zer Love hinunter in die laute Haſt der 
roßstadt. ; 
Sie kannte die Lokale, in denen ſie ihre 
Blumen bald alle verkauft hatte. Viele brauchte 
ſie nicht zu durchwandern. Dafür war ſie die 
altbekannte Veilchen-Lies, deren Erscheinung 
überall frohen Geberſinn weckte. ; 
Und so erfuhr ihre treuherzige Ermunterung: 
„Kauft der Herr ein Sträußchen?“ nie eine Ab- 
lehnung. Oft aber konnte sie unter dankes- 
frohem Lächeln und ihrem heczlichen „Merci 
auch, Herr!“ einen Nickel mehr entgegennehmen, 
als sie für ihre Blumen gefordert hatte. Im 
Frühling, zur Schneeglöckchen- und Veilchenzeit, 
waren es beſonders die ſtarkbeſetzten Cafés, 
wo sich bald ihr Blumenkorb leerte. 
Wenn dann zuweilen ein Käufer ſcherzhaft 
fragte: „Großmütterchen, was macht Ihr denn 
mit dem vielen Geld?“ sagte sie jedesmal mit 
ſtolzem Lächeln in ihrem Lothringer Deutſch: 
„'s iſch jo foos Mariele!“ 
Das war ihr Urentelkind, für das sie vom 
erſten Tage seiner Geburt an geſorgt hatte Tag 
und Nacht nun schon zwölf Jahre lang, für das 
ſie mit siebzig Jahren noch Blumenverkäuferin 
geworden war. 
Fürs Mariele trug ſie im Februar die Schnee- 
glöckchen aus ihrem Garten hinunter, im März 
und April die tiefblauen Beilchen von den Wege- 
hecken und Feldrainen, im Mai die duftfriſchen 
Maiglöckchen aus den frühlingsgrünen Wäl- 
dern droben. Im Juni waren es Gebinde der 
weißſtrahlenden Margueritenblumen von der 
einſam träumenden Waldwiese, in den lebens- 
satten Sommertagen himmelblaue Kornblumen, 
und dann zuletzt große, violette Erikaſträuße 
von der ſtillen Heide. 
Und dann war drunten in der Stadt die 
Veilchen-Lies vergessen, bis sie im Frühjahr mit 
den Schneeglöckchen wiederkam. Was die Alte 
Herbſt und Winter tat, um den Lebensunterhalt 
für sich und ihren Pflegling — die in der Stadt 
fragten nicht danach . . 
Auch nicht danach, welche Bewandtnis es 
hatte mit dem Mariele. 
Einmal hatte ſie es mitgenommen zum 
Blumenverkauf in die große Stadt und in die 
hellerleuchteten Lokale. Da hatte ein blaſsſser, 
junger Herr im Cafs die kräftige, herbfriſche 
Gestalt des Dorfmädchens mit einem ſo leiden- 
schaftlichen Blick von Kopf bis zu den Füßen 
gemessen und mit so eigenem Lächeln am Arm 
efaßt. 
g toit wars dabei der Alten in die Wangen 
geſchoſſen. Haſtig und nicht mehr ihrer Sträuß- 
chen gedenkend, war ſie mit dem Kinde hinaus- 
eeilt. ; 
y Seitdem hatte ſie es nie mehr mitgenommen. 
Nein, das Mariele ſollte nicht in die Stadt. 
Marieles Mutter, die hübſche, junge Flori, 
der Alten frühverwaiſtes Enkelkind, war in der 
Stadt gewesen. Sie war Aufwartemädchen in 
einem Café und tin gewandtes Ding. Manch 
blankes Silberſtück hatte ſie der Großmutter 
hinaufgebracht. 
Und nach langem . Ausbleiben war ſsſie an 
einem regenmüden Novembertag wiedergekom- 
men, bleich, verſtört und gar nicht mehr luſtig 
und froh. Die Großmutter hatte nichts gefragt, 
nur ein paarmal ſchwer mit dem Kopf genickt. 
Dann war sie gegangen und hatte ſtill eine 
Kammer zurechtgemacht. : 
Und dort war ein junges Leben im Geben 
eines Lebens jäh verlöſcht . . . 
Nein, das Mariele sollte nicht zur Stadt. 
Fürs Mariele war sie auch heute wieder 
hinuntergegangen mit den erſten Schneeglöckchen. 
Ein stiller Sonntagnachmittag lag über den 
Weiden. Der Tauwind fegte über die Wälder 
und entlang den grauverwaſchenen Acker- 
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