Saarkalender für das Jahr 1924.
Völkerbundes zu vereiteln und hat so der Be-
völkerung eine neue bittere Enttäuſchung be-
reitet. Sie hat durch Schaffung des Studien-
ausſchuſſes mit seinem Geheimverfahren und
ſeinen von ihr ſselbſt ernannten Mitgliedern
verſucht, ſich willfährige Gegenſpieler zum Lan-
desrat zu ſchaffen. Sie hat ferner verſucht, dem
Landesrat durch Beſchränkung der Wählbarkeit
auf die im Saargebiet geborenen Personen wert-
volle Intelligenzen vorzuenthalten, hat ihn in
eine unwürdige Geſchäftsordnung eingezwängt,
hat ihm seinen Präsidenten ernannt, hat ihm
Petitionsrecht,Interpellationsrecht,Tmmunität der
Abgeordneten verſagt. Kurzum: der Landesrat
sollte mit allen Mitteln zur Bedeutungsloſsigkeit
herabgedrückt werden. Aber ſselbſt über das noch
belasſene Minimum an Rechten hat ſich die Re-
gierungskommiſssion hinweggesetzt: bei den wich-
tigſten Verordnungen wurde der Landesrat
überhaupt nicht gehört (u. a. bei der berüchtigten
Notveroronung und der Stltreikpoſtenverord-
nung). Wenn der Landesrat aber gehört wurde.
dann hat die Regierungskommission nur in
nebensächlichen Fragen den Vorſchlägen des
Landesrates ſtattgegeben, in den grundsätzlichen
Fragen aber ſich von seinem Votum in keiner
Weiſe beeinfluſsſen lassen. So ist es gekommen,
daß die im Eingange einer jeden Verordnung
enthaltenen Worte:
„nach Anhörung der gewä
hlten Vertreter der
Bevölkerung“ ;
von der Bevölkerung wie ein Hohn auf ihre
Rechte empfunden werden und eine offenbare
Irreführung darſtellen.
Eine beſondere Mißachtung der Rechte des
Landesrates sieht die Bevölkerung in der ſselbſt-
herrlichen Finanggebarung der Regierungskom-
mission, die in sinnfälligem Widerspruche zu dem
Geiſte des § 26 des Saarsſtatuts bei der Feſt-
legung der Ausgaben des Etats jede ernsthafte
Mitarbeit des Landesrates ſchon dadurch hin-
fällig macht, daß ſie es peinlich vermeidet,
dieſem ein klares Bild über die Verwendung der
ſtaatlichen Gelder zu geben. Die Steuerzahler
haben aber auch hier im Saargebiet das Recht,
zu erfahren, wie ihre Gelder verwertet werden.
Es besteht heute, nachdem die Zeiten der Ueber-
gangswirtſchaft überwunden ſind, keine Ent-
ſchuldigung mehr dafür, dieſen anerkannten
Grundſatz einer jeden modernen Demokratie
außer Acht zu laſſen.
Die Tätigkeit der Regierungskommission hat
unhaltbare Zuſtände geſchaffen. Eine tiefe Kluft
iſt aufgerissen zwischen Regierung und Bevölke-
rung. Alle guten Elemente der Bevölkerung
werden durch die Methoden der Regierungs-
kommission abgeſtoßzen. Durch Engherzigkeit
und Nichtachtung verbriefter Rechte, durch Ver-
ſtändnislosigkeit für die Bedürfnisse der Bevölke-
rung und durch Mißbrauch der ihr anver-
trauten Gewalt hat die Regierungskommiſssion
es in so kurzer Zeit erreichen können, daß ſie
jegliches Vertrauen in der geſamten Bevölkerung
verloren hat. Sie ſteht allein und isoliert in
dem Gebiete, deſſen Wohlfahrt in ihre Hände
gelegt iſt. Dabei war ihre Aufgabe derartig
ideal, daß ihre Erfüllung ihr zum höchsten An-
sehen in der ganzen Welt verholfen hätte. Sie
ſollte die hahen Grundſätze des Völkerbundes:
Gerechtigkeiſi Freiheit, Selbstbeſtimmung ver-
wirklichen. Hierdurch sollte sie die tiefe Kluft
zwischen zwei großen Völkern überbrücken. Die
Regierungskommisſion hat dies nicht vermocht.
Sie hat die hohen Prinzipien, die die Gründung
des Völkerbundes veranlaßt haben, nicht in die
Praxis umgesetzt. Das iſt der Grund, aus
welchem nicht etwa die Idee, wohl aber das
Werk derer, die dazu berufen waren, dieſe Idee
in die Tat umzusetzen, Schiffbruch leiden mußte.
Und dennoch lebt im Saargebiet eine Bevölke-
rung, die aufrichtige wünſcht, daß die großen
Gedanken, die hohen Ideale des Völkerbundes
verwirklicht werden von einer Kommission, die
dieses Ziel ehrlich will. Einer solchen Regie-
rung würde die ganze Welt Beifall zollen. Vor *
aller Welt wäre dann der Beweis dafür erbracht,
daß eines der ſchwierigſten Probleme der Welt-
geſchichte auf dem Wege über den Völkerbund
seiner Löſung zugeführt werden kann im Geiſte
der Gerechtigkeit und der Völkerverſöhnung.
Mig
Neumarkt mit INarkthalle in Saarbrücken 1
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