Saarfalender für das Jahr 1923
kletterft ihm nach, während er oben das Seil hält. €s dauert niht lange, da hat dich das Kletterfieber
erfaßt. Du achteſt nimt mehr auf die Höhe, in der du dich befindeſt, niht mehr auf die Gefahr, der
du ausgeſeßt bift, ni<mt mehr auf die großartige Umgebung, die ſich allmählich herausgebildet hat; du
ſiehſt nur noch das kleine Stück Selſen, das einige Meter rechts, einige Meter links von dir und einige
Meter über dir liegt. Heiß jftrömt dir das Blut durch die Adern, ſhwer keucht die Bruft, wild klopft
das Herz, jede Saſer deines Ichs iſt in Tätigkeit.
Wonnig umfängt di der Gipfel, auf den du ermattet niederſinken willft, doh erft noHm mußt du
den warmen Händedruck entgegennehmen, den dir Sranzel entbietet. Haft du ſchon jemals die Schön-
heit des Wortes „Berg Heil“ empfunden? In dieſem Augenblicke werden dir die beiden Worte aus
dem Munde des einfachen Sohnes der Berge offenbaren, wie ſchön die deutſche Sprache ift. Dann
ſinkft du nieder auf den nächſten Stein und ſchließt die Augen, und wenn du ſie wieder öffneſt,
blickft du in eine neue Welt hinein. Vor dir, neben dir, hinter dir, alles ift frei. Du glaubſt in
einem Slugzeug zu ſchweben, und doh ruhſt du feſt und unbeweglich auf hartem Geſtein. Vorſichtig
wagſt du auszuſc<hauen ; da trifft dein Auge tief unter dir Schneefeld an Schneefeld, Gipfel an Gipfel
erblickſft du die herrliche Silvretta. Und wenn du die Silvretta kennft, wirft du kühner ; frei läßt du
den Blick über die Silvretta hinwegſchweifen bis zum fernſten Horizont. Und ſiehe da, gar mander
alter Bekannter blickt dir entgegen und ſendet dir ſeinen ewig weißen 6ruß. Wie winkt ſo bekannt
und ſo traut das Zackenmeer der Kalkalpen herüber : Rotwand, Hodchvogel, Valluga, Parſeierſpitze, Zug»
ſpite, wie grüßen ſo leuchtend die weiten Schneefelder der Ößtaler Berge, wie entſteigt ſo maſſig und
doch jo kühn der Ortler mit ſeinen Trabanten dem übrigen Volk der Berge, wie locken ſo verführeriſch
Italiens Shneeberge : Disgratia, Viola, Piazzi, wie leuchtet ſo fleckenlos rein die edle Bernina, wie winken
ſo innig die übrigen Shweizerberge : Säntis, 6lärniſ<, Tödi, Rheinwaldhorn, Jungfrau, und dort gar,
ift es Täuſhung oder Wirklichkeit, der König der Alpen, das Matterhorn und die unvergleichliche
Monte-Roſa-0ftwand. Heil eu) allen, ihr kühnen Recken, Sterne unter den Bergen Europas. Lange
noh hältſt du Zwieſprache mit ihnen und friſhft all die Erinnerungen wieder auf, die dim mit den
meiſtenävon ihnen verbinden.
Inzwiſchen iſt Sranze] nicht untätig geweſen. Er hat leiſe das Sernglas ergriffen, das du neben
dich gelegt haft, und muſtert ſcharf die nächſten Gipfel. Ein ſchweres Aufftampfen läßt dich hinſchauen
zu ihm; er reicht dir erregt das 6las und deutet auf einen der Schroffen unter dir, dim einladend,
dieſe Stelle ſcharf ins 6las zu nehmen. Du tuft es, und -- entzückt fängſt du an zu zählen: eins,
zwei, drei . . . . elf Gemſen ftehen dort und graſen. Graſen die ſpärlihen Halme, die die Natur
jelbſt in dieſer Höhe an einzelnen Stellen des Selſens noh hervorbringt. Lange noh bleibſt du auf
dem Gipfel, ſchreibſt dich ins Gipfelbuch ein, das in einer Blehbüchſe unter einem Steine liegt. Du
fragſt Sranzel, woher die drei fingerdicken Löher kommen, die BuF und Blehbüchſe durchbohren
und erfährft, daß dreimal der Bliß ins Buch eingeſchlagen und jein Hiexſein alfo verewigt hat. Dann
rüſteſt du zum Abſtieg.
Auf der entgegengeſetzten Seite geht es nun hinunter. Der Weg ift weniger ſhwierig als der Auf=
ſtieg, nur an einer Stelle ſteht ein gebieteriſches Halt. 20 Meter ſenkrehte Wand, ohne irgend=
welche Griffe. Sranzel weiß Rat. Er bindet dich ans Seil und läßt dich frei ſchwebend hinunter.
Dann legt er das mehr als 40 Meter lange Seil loſe um eine vorſpringende Selsnaſe, läßt beide
Enden des Seiles gleichmäßig und frei herunterhängen und gleitet ſelbſt, indem er beide Seilhälften
zwiſchen den Händen hat, am Seil zu dir herunter. Unten angelangt, zieht er an einem der beiden
Seilenden das Seil ebenfalls nach unten.
Nah Ueberquerung des 6roß-Litzners iſt die Ueberſhreitung des 6roß-Seehorns !eine verhältnismäßig
einfache Sache. Nur der Abftieg bietet wieder einige Schwierigkeit, wo ein Schneefeld, das mehrere
hundert Meter hoc) ift, und unter einem Steigungswinke] von ungefähr 60* emporfteigt, überwunden
werden muß. Das Gefimht zum Schneefeld gekehrt, den Pickel bis ans Eiſen in den Schnee einge=
rammt, mit den Sußſpiten-Tritt um Tritt in den Schnee ftoßend, ſteigſt du hinab. Unten empfängt
dich der Gletſcher, den du fröhlich pfeifend überſchreiteft, denn auf dieſer Seite iſt der Gletſcher
harmlos und zuverläſſig. So geht es bis zur hütte, wo di Kathi freudeſtrahlend empfängt, dir
die Hand drückt und Glück wünſcht zu 'der ſchweren, in Bergſteigerkreiſen wohl geachteten Ueber-
Ihreitung von 6roß:Litner und 6roß=Sechorn.
Zwei Tage ſpäter: Heulend umbraufſt der Sturm Litner und Hütte. Shneidend fliegen die eis-
kalten Schneeflocken den beiden Wanderern ins Geſimt, die eilenden Shrittes dem Tale zuſtreben.
An einer Wegebiegung bleiben die zwei ftehen, blicken hinauf zur Höhe, wo vor länger denn einer Stunde
die Hütte im Schneegeſtöber verſchwunden ift, nehmen den ſchneebedeckten Hut vom Kopfe und jagen
wie aus einem Munde:
„Stürmen und Wettern halte nun Stand
Saarbrücker hütte im Alpenland!“
85