Saarkalender für das Jahr 1923
Das Land ertrug's. Schwer, aber ohne zu
verzweifeln, es lebte ein unbehagſamer
Wille in ihnen, ſich nicht entmutigen zu
laſſen, ein feſtes Vertrauen, daß man jie
eines Tages aus dieſen unerträälichen Zu“
ſtänden befreien würde.
Kaiſer Napoleons Herrſchaft begann. Das
Saarbrücker Schloß wurde aufgebaut uad
an die Bürger vermietet, die zehn Kohlen-
gruben an franzöſiſche Geſellſchaften ver-
pachtet, die Eiſenhütten an franzöſiſche
Fabrikanten, breite Heeresſtraßen wurden
gebaut für die Armeen und mit Pappeln
bepflanzt, die uns heute no“ an unſeren
Landſtraßen an die napoleoniſchen Zeiten
erinnern, bis endlich Napoleons 'Sturz kam.
Zum letztenmal kam er dur die 'Saarſtädte
nach der Schlacht bei Leipzig, im November
1813. Dann kam Blücher über den Rhein,
und das Saarland wurde frei. Endlich
öffneten ſih in dem Jagdhaus wieder Ye
grünen Läden, die alten ſtillen Räume fülll:n
ſißG mit deutſchen Soldaten, mit Blüchers
Huſaren und Küraſſieren, die dort einquar-
tiert wurden.
Nach: langen Kämpfen kam das Saarland
zu Preußen, es hatte ſich das gewünſcht. Und
dann ging es ſc<nell wieder bergauf mit
allem, der Handel belebte ſich wieder, die
Schiffahrt blühte, Fabriken entſtanden und
Eiſenhütten, Schulen und Kirchen und Dörfer
ſchoſſen aus dem Boden empor. Die Städte
vergrößerten ſich, das Land bevölkerte ſch
mehr und mehr, und wenn auch neue Kriege an
ſeine Mauern bränbdeten, es hielt alles aus,
jeſt und treu. Und es hat auch alle Shrecken
des vierjährigen letzten Krieges ertragen. In
dem alten Jagdſchloff hatte ſich inzwiſchen
mandhes verändert, Die fürſtlichen Mobel
wurden fortgetragen, Fremde zogen. ein.
Ter Schrank blieb ſtehen, er wurde zurück-
gelaſſen, niemand hatte ihn gewollt, und es
fragte auch niemand nadh ihm. Er führte ein
3infames Leben in einem kalten Fremden-
zimmer, bis eines Tages eine alte Dame
dor: einzog. 'Sie war ſchon ſehr alt, trug
einen grünen » Lichtſchirxm und ſchrieb auf
ſe'ner Platte viele Briefe. Aus ihren Selbſt-
geſprächen entnahm er, daß ſie einen Prozeß
um ihr väterliches Gut verloren hatte und
nan zu ihren Verwandten, die das Haus ge-
kauft hatten, gezogen war.
Das Zimmer belebte ſich des Morgens,
wenn die Kinder heraufkamen. um hier zu
ſpielen, dann wurden die kleinen Schub-
fächer auf- und zugemacht, bis es ihm weh-
tat, und an ſeinen Schlöſſern geklimpert
und hevumprobiert, und er bekam die erſten
Schrammen und Püffe, oin kleiner wilder
Junge, der „Pferd“ mit ihm ſpielte, ſchlug
vr oft die Peitſche über, aber darüber
lächelte der alte Shrank. Eimmal aber hatte
er große Angſt ausgeſtanden. Die Kindor
ipieiten Verſteck, die alte Dame war foxt-
gegangen, und ein kleines Mädchen war
daraufgekommein, in eine ſeiner 'Shubladen
zu ſteigen, ſie befahl dem kleinen Jungen,
dieſe zuzumachen, er tat es und ging davon,
Das kleine Mädchen war ich.
IH erinnere mich heute noch, daß es mir
erſt darinnen ſehr gefiel, es war ein ſicherer
Berſtek, und die anderen konnten mich
lange ſuchen. Aber als es dann Mitlag
läutete" und es auf Fluven und Tveppen ſo
ſtill ward, Ram mir plößlich die Angſt. Hatte
man midy vergeſſen? Jc<. pochte gegen die
Lade, aber niemand hörte mich, alles blieb
ſtill. Die Luft beklemmte mich, ich ſchrie aus
Leibeskräften, bis endlich eine Magd ange-
laufen kam, die mich entſeßt aus der Lade
herausholte.
Die alte Dame, meine Großtante, ſtarb,
und ihre Zimmer wurden „abgeſchloſſen, wir
zogen zur Stadt. Der Schrank wurde zu
groß für die Stadtwohnung befunden und
vlieb ſtehen, eine Tante, die nach: Lothringen
309g, nahm ihn ſchließlich mit.
Nun kam der Schrank wieder in gang neue
Berhältniſſe, an die er ſich erſt gewöhnen
mußte. In dieſem neueroberten Land, das
ſo oft ſeine Nationalität gewechſelt hatte,
ſprächen die Menſchen ein gar ſonderbares
Gemiſch von zwei Sprachen, ſo daß er ſie
gernicht verſtand. Er ſtand einem Cheminee
gegenüber, in dem im Winter Holzfeuer
brannte, das nicht wärmte, aber fehr ſchön
ausſah, und er ſah auf eine öde Straße hin-
aus, in der ein Haus gebaut war wie das
andere, und alle mit derſelben grauen Farbe
angeſtrichen waren, und an dem Haus vor-
bei kamen Bauern in blauen Bluſen, mit
3roßen ſchwarzen Schlapphüten und Bäue-
rinnen in weißen Mullhauben, und in der
Kaſerne dem Hauſe gegenüber hatten die
franzöſiſ<en Dragoner den bayeriſchen
Chevaulegers Blatz gemacht, die er auf ihren
ſ<Gmucken Rappen und Füchſen vorüber
reiten ſah.
Viele Jahre ſtand er hier, ein ganzes
Menſchenalter, ohne daß ſie) die graue
Straße änderte, und eines Tages kam der
Krieg und man hörte aus den nahen Vogeſen
ven Kanonendonner Tag und Nacht. Der
Schrank madte ſich niht viel davaus. Jn
ſeiner Jugend hatte er ſo viel ſchießen ge-
hört, er hatte ſogar eine Stadtbelagerung
mitgemaht, und eines Tages war der
Krieg zu Ende und die Kanonen ſc<wie-
gen. Für ihn war das alles nicht viel mehr
wie ein Geräuſch, aber diesmal kKmatterten
ſie ihm doch reht arg. Die Flieger warf2n
ihre Bomben immer auf 'die Kaſerne und
um die Kaſerne herum, und einmal hätten
ſie ihn faſt getroffen, denn eine Bombe ftel
in dasfſelbe Zimmer, in 'dem er ſtand, Alle
Fenſter ſprangen in tauſend 'Scherben und
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