Saarfalender für das Jahr 1923
Die Wirtschaftsverhältnisse des Saargebietes nach dem Friedensvertrage.
Das Frieden5sdiktat von Verſailles hat das
Saargebiet auf 15 Jahre von Deutſchland ab-
getrennt und für dieſe Zeit die Verwaltung
des Gebietes einem Regierungsausſchuß an-
vertraut, der vom Völkerbund ernannt wird
und der gemäß Kapitel 11 8 17 des Friedens-
vertrages aus fünf Mitgliedern, - darunter
einem Franzoſen, einem Saarländer und drei
neutralen Perſonen beſtehen ſoll. Auf die
Wahl dieſex fünf Regierungsmitglieder hat die
Bevölkerung weder Einfluß, noh hat ſie ein
Vorſchlagsreht. Bei dem ſtarken Einfluß
Frankreichs im Völkerbund ſind dann auch die
Wahlen ganz im Sinne Frankreichs vorge-
nommen worden. Sogar das ſaarländiſche
Mitglied der Regierungskommiſſion gehört zu
dem winzigen Teil der Frankophilen, deren es
im Saargebiet vielleiht einige hundert im
ganzen, ſicher aber keine tauſend gibt.
Rach Abſchnitt IV, Artikel 46, des Frie-
densvertrages wurden mit Inkrafttreten des
Friedensvertrages gleichzeitig dem franzö-
ſiſchen Staat alle Kohlengruben des Saarge-
biets als Erſaß für die Zerſtörung der Kohlen-
gruben in Nordfrankreich völlig ſchulden- und
laſtenfrei' übertragen. Die Hälfte aller Ar-
beitnehmer des Saargebietes arbeitet im
Kohlenbergbau. Der franzöſiſche Staat als ihr
Arbeitgeber vermag daher auf die ſaarlän-
diſche Wirtſchaft einen nic<ht unbedeutenden
Einfluß auszuüben. Dieſer Einfluß wird aber
dadur<h verſtärkt, daß durc<h den Friedensver-
trag Kapitel I] 8 31 gleichzeitig das Saar-
gebiet dem franzöſiſchen Zollſyſtem eingeord-
net wird. Nach 8 '32 desſelben Kapitels öſt
endlich der Umlauf franzöſiſchen Geldes keiner
Beſchränkung unterworfen. Bei Beurteilung
der ſaarländiſchen Wirtſ<haftsverhältniſſe
müſſen dieſe Tatſachen unbedingt berückſichtigt
werden, da man ſonſt ein klares Bild nicht
gewinnen kann. Die Entwicklung der Wirt-
ſchaftsverhältniſſe ſeit Inkrafttreten des Frie-
densvertrages. iſt daher beeinflußt worden,
erſtens, dur< den Uebergang der Gruben in
den Beſitß des franzöſiſchen 'Staates, zweitens
durch die Zollverhältniſſe und drittens durch
die Währungsfrage. Als Unterfragen ſind
weiter die Entwickelung der ſaarländiſchen
Induſtrie, des ſaarländiſchen Handels und des
ſaarländiſ<en Handwerks zu behandeln,
Zwei Werke der Schwerinduſtrie hatten
ſchon vor dem Kriede franzöſiſches oder bel-
giſches Kapital. Unter dem militäriſchen
Druck, der während des Waäaffenſtillſtandes aus-
geübt wurde, 'und der ſich auf die Kohlenver-
teilung und Erzzufuhr erſtrekte, gelang es
franzöſiſchem Kapital, von faſt allen übrigen
Werken der Schwerinduſtrie und von einem
Teil der weiterverarbeitenden Induſtrie die
Mehrheit zu erwerben. Durch 'Anſtellen fran-
zöſiſcher Generaldirektoren unv durchg Wahl
von Franzoſen in die Aufſichtsräte kam das
auch äußerlich zum Ausdruck. Als nun die
franzöſiſchen Staatsgruben auf Wunſch eines
Bruchteiles der Bergarbeiter den Franken
einführten. mußte die Schwerinduſtrie ſehr
bald folgen, zumal / die franzöſiſche Leitung
der Werke die Einführung eher begünſtigte,
als ihr widerſtrebte. Anders war es bei einem
Teil der weiterverarbeitenden Induſtrie. Sie
iſt bei dem Abſatz Hrer Erzeugniſſe ſtark auf
den deutſchen Markt angewieſen, ſie muß be-
reits Kohlen und Eiſen im Frankwährung be»
zahlen, eine Löhnung ebenfalls in Franken
würde ihrem Ruin Hedeutet haben. Durch
energiſchen Widerſtand iſt es ihr bis heute ge-
lungen, an der Mark feſtzuhalten. Die Regie-
cungskommwurion des Saargebietes hat 9 Be-
ſtimmung des Friedensvertrages, daß der Um-
lauf des franzöſiſchen Geldes Keiner Be-
ſchränkung unterworfen iſt, ſo ausgelegt, daß
dem Franken möglichſt der Weg zu ebnen ſei.
Im Märg -1921 erklärte die Regierungskom-
miſſion, daß eine Erhöhung der Gehälter der
Eiſenbahnbeamten und -Arbeiter in Mark
nicht möglich ſei, dagegen ſei die Regierung
bereit, eine. Verbeſſerung der Löhne durH
Framkeneinführung vorzunehmen. Eine Ab-
ſtimmung hatte das Ergebnis, daß ſich zwar
die Eiſenbahner mit zwei Drittel Mehrheit
gegen den Franken ausſprachen, daß aber die
Regierungskommiſſion trozdem die Franken-
löhnung be: den Saarbahnen und der Poſt
einführte -und Frachten, Porto und Fahrgeld
nur noch in Franken erhob. Jm Auguſt 1921
folgte alsdann die Beſoldung aller Staats-
beamten in Frankwährung. Die Kommunal-
beamten verlangten Gleichſtellung mit den
Staatsbeamten und erhielten dur<F einen
Spruch des neueingerichteten Verwaltungs-
gerichtes ebenfalls die Frankenbeſoldung bis
zum 14. April 1922. Für die Zeit nah dem
1. April 1922 hatten die meiſten. Kommunal-
verwaltungen 100 Prozent Zuſchlag auf 'die
Saße der Reichsbeamtenoehälter bewilligt. Die
Beamten haben jedoch erneut Klage auf Fran-
kenbeſoldung erhoben; eine Entſcheidung hat
das Verwaltungsgericht bis heute noh nicht
gefällt.
Da die Jnduſtrie ihre Arbeiter in Frank-
währung löhnen und neben den Erzen auch
die Kohlen in dieſer Währung bezahlen mußte,
konnte ſie gegen den deutſchen Wettbewerb
nicht mehr aufkommen. Zu einer Zeit, wo in
Deutſchland gute, Beſchäftigung war, mußten
deshalb im Saargebiet große Betriebsein-
ſ<hränkungen vorgenommen werden. Auch die
frangöſiſchen Staatsgruben mußten die Kohlen
auf die Halden ſchütten und Feierſchichten
wegen Abſaßmangels einlegen. Die Löhne der
Imbduſtrie- und Bergarbeiter, die von Anfang
ani unter den innerfranzöſiſchen Löhnen ſtan-
den, mußten herabgeſeßt werden, So wurde
erreiht, daß die Saarerzeugniſſe wieder Ab-
ſaß auf den Weltmärkten fanden, aber den
nahegelegenen deutjchen Markt können ſie
auch heute noh nicht wiedererobern. Nur da-
durch, daß das Saargebiet bis zum Jahre 1925
zollfreie Einfuhr für alle in Deutſchland her-
Geſtellten und aus Deutſchland ſtammenden
Produkte hat. und. daß dadurch die Lebens-
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