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Geleitwort
Eine umfassende Geschichte der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in
den Ländern der französischen Besatzungszone von 1945 bis 1955 steht noch aus.
Rainer Hudemanns grundlegende Arbeit über die Sozialpolitik im deutschen Süd
westen von 1945 bis 1953 ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Nach wie vor sind wesentliche Teilbereiche der Nachkriegsentwicklung in der fran
zösischen Besatzungszone unbekannt. Im Gegensatz zur Bedeutung der Sozialpoli
tik in der praktischen Politik nach 1945 hat sich die Forschung über die französische
Zone mit diesem Thema bisher nur wenig beschäftigt. Sozialpolitisch relevante
Fragen standen in den Anfangsjahren im Mittelpunkt der parlamentarischen Aus
einandersetzungen. Es ging um die Sicherstellung der Ernährung, die Minderung der
Wohnungsnot, die Hausbrandversorgung, die Bewältigung des Flüchtlingsproblems,
den Lastenausgleich oder die Versorgung der Kriegsopfer. Es fehlte an den dring
lichsten Voraussetzungen für einen auch nur notdürftigen Lebensunterhalt.
Allergrößte Sorge bereitete der Bevölkerung, den deutschen Politikern und Behör
den die schwierige Ernährungslage. Die von französischer Seite festgelegten Kalo
rienmengen reichten nicht einmal aus, um die Bevölkerung vor einem weiteren
Kräfteverfall zu bewahren. Unter dem Eindruck der Demontagen, Requisitionen
und laufenden Lebensmittelentnahmen durch die französische Militärregierung ver
stärkte sich die Neigung, der Besatzungsmacht die Verantwortung für die vorhande
nen Notstände zuzuschreiben.
In der Forschung über die französische Besatzungspolitik und genauso auch in der
Erinnerung der betroffenen Bürger standen die französischen Aktivitäten, die eigene
Zone wirtschaftlich für den innerfranzösischen Wiederaufbau zu nutzen, bis heute
im Vordergrund.
Rainer Hudemann hat das Thema der Sozialpolitik auf die Kriegsopferversorgung
und den Aufbau der Sozialversicherung in der französischen Besatzungszone einge
grenzt. Die Untersuchung erfolgt unter allgemeinpolitischen Fragestellungen und
kommt zu dem Ergebnis, daß die französische Besatzungspolitik nicht in dem bisher
vermuteten Ausmaß für die soziale und wirtschaftliche Notsituation der Nachkriegs
jahre im deutschen Südwesten verantwortlich war. Der Ambivalenz der politischen
Konzepte und Verlautbarungen der Besatzungsmacht entsprach ihr praktisch-politi
sches Vorgehen. Harten wirtschaftspolitischen Maßnahmen standen aktive Neuord
nungsansätze gegenüber, die auf eine Demokratisierung der westdeutschen Gesell
schaft gerichtet waren.
Gerade auf dem Gebiet der Sozialpolitik sind die demokratischen Neuordnungs
grundsätze der französischen Besatzungspolitik besonders deutlich. Rainer Hude
mann stellt heraus, daß die Reform der Sozialversicherung in der französischen
Zone — abgesehen von Bremerhaven — der einzige Versuch zur Errichtung einer
Einheitskrankenkasse auf dem Territorium der heutigen Bundesrepublik gewesen
ist. 1948 konnten in den Ländern der französischen Besatzungszone die ersten
Sozialwahlen der Nachkriegsgeschichte abgehalten werden.