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Reform zeigten sich vor allem, als diese Einheitskrankenkasse 1949 wieder aufgelöst
wurde: Die Beitragssätze, bislang unter dem Bundesdurchschnitt liegend, stiegen
überproportional, der Anteil der Rentner und damit der ungünstigen Risiken an den
Mitgliedern wuchs. Andererseits wurde nur ein Teil der zuvor bestehenden Sonder
kassen wiedergegründet; vor allem im Bereich der Betriebskrankenkassen und der
freiwilligen Ersatzkassenmitglieder behielten die Ortskrankenkassen einen erhebli
chen Teil der ihnen 1946 zunächst zwangsweise zugeführten Mitglieder.
3. Wurde schon die Sozialversicherungsreform im April 1946 in der französischen
Militärverwaltung als Teil einer umfassenderen reorganisation sociale gesehen, so
wurden die „demokratisierenden“ Tendenzen in der Sozialpolitik noch deutlicher in
der sozialen Selbstverwaltung. In der deutschen Selbstverwaltungstradition
war die Durchführung von Sozialwahlen an die Existenz starker Organisationen der
Tarifpartner gebunden, die 1945 nicht mehr bestanden. Die Auflösung der Gewerk
schaften 1933 und der Selbstverwaltung 1934 wirkte damit in die Nachkriegszeit
hinein, denn aus diesem Grunde lehnten alle Militärregierungen Sozialwahlen 1945
zunächst ab; in ihrer Beurteilung der Situation stimmten sie mit den maßgebenden
deutschen Kräften überein. In den Ländern der britischen und amerikanischen Zone
führte die Konstellation dazu, daß Sozialwahlen bis 1953 blockiert blieben, nachdem
das Bizonen-Kontrollamt noch 1949 ein Selbstverwaltungsgesetz des Wirtschaftsra
tes abgelehnt hatte. Im Gegensatz dazu wurde in der französischen Zone die Militär
regierung seit Anfang 1947, als sie den Organisationsgrad der Gewerkschaften als
ausreichend betrachtete, zum treibenden Faktor der Entwicklung. Infolge des Mitbe
stimmungsrechts der Selbstverwaltungsorgane in Fragen der Leistungshöhe und der
Kapitalanlage waren dabei erneut die finanziellen Interessen der Besatzungsmacht
über die Staatszuschüsse und die Besatzungskosten tangiert; die Baden-Badener
Militärregierung setzte sich über entsprechende interne Bedenken hinweg und for
cierte dennoch die Rekonstruktion der Selbstverwaltung. Sie führte 1948 zu den
ersten deutschen Nachkriegs-Sozialwahlen — ein halbes Jahrzehnt vor den Ländern
der anderen Westzonen. Dabei bestand die Militärregierung in allen Phasen der
Entwicklung auf Wahlen und lehnte sämtliche aus der deutschen Verwaltung kom
menden Entwürfe eines Designationsverfahrens durch die jeweiligen Verbände, wie
es 1945 provisorisch praktiziert worden war und in der Bizone fortgalt, durchgehend
ab. Auch die Durchführung der Wahlen, von den deutschen Verwaltungen monate
lang verschleppt, war in allen Ländern im wesentlichen dem Insistieren der Militär
regierung zu verdanken. Die Wahlen hatten sich allerdings zunächst vorwiegend auf
die Krankenkassen zu beschränken, da die Landesversicherungsanstalten Stuttgart
und Karlsruhe, obwohl auch für den Süden der französischen Zone zuständig, bis
1953 nach dem Recht der US-Zone arbeiteten. Die LVA Rheinland-Pfalz in Speyer
war die einzige deutsche Landesversicherungsanstalt, die bereits 1948 Wahlen zu
Vorstand und Ausschuß ausschrieb. In der Unfallversicherung wurde im Südwesten
erstmals eine Arbeitnehmervertretung eingeführt. Bis in Details hinein bemühte sich
die Militärregierung um eine Reaktivierung der sozialen Selbstverwaltung an der
„Basis“, wie sie zu den wichtigsten Traditionen der Arbeiterbewegung gehört hatte
und durch das „III. Reich“ unterbrochen worden war. Nach dem Krieg blieben die
Franzosen mit diesem Konzept allerdings insofern auf etwas verlorenem Posten, als