539
Wie alle großen Sozialprobleme der Nachkriegszeit, ist auch die Kriegsopferfrage
letztlich nicht durch die politischen Kämpfe der ersten Nachkriegsjahre bewältigt
worden, sondern infolge des Wirtschaftsaufschwunges, der die erforderlichen Fi
nanzmittel in einem zur Zeit der Gründung der Bundesrepublik noch nicht vermute
ten Ausmaß freisetzte. Diese von Hans-Peter Schwarz für die Probleme des Lasten
ausgleichs und der Vertriebenenintegration getroffene Feststellung“ gilt insofern
auch für die Kriegsopfer. Dennoch sind die ersten Nachkriegsjahre für die Stellung
der Kriegsopfer nicht nur durch die Ausarbeitung wesentlicher Strukturen des Lei
stungssystems langfristig prägend geblieben. Das Problem führt über den Rahmen
dieser Arbeit hinaus. Doch wenn die im Rahmen der Vorbereitung dieser Arbeit,
auch im Kontakt mit den Verbänden, gewonnenen Eindrücke nicht grundlegend
trügen, haben die Kriegsopfer trotz ihrer quantitativen Bedeutung und trotz des
eindrucksvollen Umfanges ihrer Interessenverbände in derbundesdeutschen Gesell
schaft ihre Randstellung behalten. Ein charakteristisches Beispiel ist die Dynamisie
rung der Renten, die für die Sozialrentner 1957 Wirklichkeit wurde, für die Kriegsop
fer offiziell 1966 und tatsächlich 1970 - mit dreizehnjähriger „Verspätung“. Dies
hängt nicht mehr mit der finanziellen Situation der Gründungsjahre zusammen,
sondern hier führen die Überlegungen zurück zu einem der Ausgangspunkte der
Untersuchung: In der Stellung der Kriegsopfer spiegelt sich, wie gerade im interna
tionalen Vergleich etwa mit Frankreich deutlich wird, auch das komplexe Verhältnis
der Bevölkerung der Bundesrepublik zu Krieg und „III. Reich“ wider. Eine über die
hier behandelten Jahre hinausführende Untersuchung des Kriegsopferproblems
dürfte auch für diese Fragen und für die Wirkungen des „Wirtschaftswunders“ auf
die soziale Mentalität im Nachkriegsdeutschland noch interessantes Material ber
gen.
15 Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründerjahre, S. 169.