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I.
Wirtschafts- und Finanzpolitik 1931-1949
in sozialgeschichtlicher Nachkriegsperspektive:
Wirkungsbedingungen der Sozialpolitik in der Schwarzmarktzeit
und Hintergründe des Verhältnisses
von Bevölkerung und Besatzungsmacht
Es kann keine Demokratie aufgebaut werden mit hungerndem Magen! rief der christ
demokratische Konstanzer Bürgermeister und Landtagsabgeordnete Hermann
Schneider Mitte Juni 1947 in der großen Debatte des Badischen Landtags über die
Ernährungslage aus. 1
Der Redner zielte damit auf die französische Besatzungsmacht, die er in Überein
stimmung mit der großen Mehrheit der Bevölkerung für die desolate Versorgungs
situation verantwortlich machte. Sein Ausruf eröffnet aber darüber hinaus weitere
Perspektiven für die Beurteilung der Grundprobleme der Besatzungszeit. Erstens
zeigt er die Problematik aller politischen Neuordnungsansätze im Nachkriegs
deutschland: Solange die wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung sich
nicht besserte, war das Interesse für politische Aktivitäten und Reformprogramme
gering; nicht zuletzt konstatierten dies die Parteien und Gewerkschaften bei ihrem
chronischen Mangel an qualifiziertem Führungspersonal. Auch die Besatzungs
macht traf mit ihren Reformabsichten in dieser Situation nicht immer auf Gegen
liebe von deutscher Seite. Damit führt die badische Ernährungsdiskussion zu einem
Kernproblem der Interaktion zwischen Besatzungsmacht und deutscher Bevölke
rung und liefert einen ersten Erklärungsansatz dafür, weshalb bis heute die Reform
aktivitäten in der französischen Zone in der kollektiven Erinnerung keine deutliche
ren Spuren hinterlassen haben. Im spezielleren Zusammenhang der vorliegenden
Arbeit stellt sich dabei zweitens das Problem, welche Wirkungen Maßnahmen der
klassischen Sozialpolitik haben konnten, wenn die Bevölkerung sich - wie es scheint
- nur zu weit überhöhten Preisen auf illegalem Wege versorgen und für Renten und
andere Geldleistungen kaum etwas kaufen konnte; insofern ist zu untersuchen,
welche Rolle die halb- oder illegalen parallelen Versorgungsmöglichkeiten in den
Nachkriegsjahren für die Bevölkerung spielten.
Fragt man nach den Hintergründen von Versorgungslage und „Schwarzem Markt“,
die das Bewußtsein der Bevölkerung nach 1945 weitgehend beherrschten, so eröffnet
sich eine dritte Perspektive.
1 Verh. Bad. LT, 12.6. 1947, S. 5.