Full text: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953

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I. 
Wirtschafts- und Finanzpolitik 1931-1949 
in sozialgeschichtlicher Nachkriegsperspektive: 
Wirkungsbedingungen der Sozialpolitik in der Schwarzmarktzeit 
und Hintergründe des Verhältnisses 
von Bevölkerung und Besatzungsmacht 
Es kann keine Demokratie aufgebaut werden mit hungerndem Magen! rief der christ 
demokratische Konstanzer Bürgermeister und Landtagsabgeordnete Hermann 
Schneider Mitte Juni 1947 in der großen Debatte des Badischen Landtags über die 
Ernährungslage aus. 1 
Der Redner zielte damit auf die französische Besatzungsmacht, die er in Überein 
stimmung mit der großen Mehrheit der Bevölkerung für die desolate Versorgungs 
situation verantwortlich machte. Sein Ausruf eröffnet aber darüber hinaus weitere 
Perspektiven für die Beurteilung der Grundprobleme der Besatzungszeit. Erstens 
zeigt er die Problematik aller politischen Neuordnungsansätze im Nachkriegs 
deutschland: Solange die wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung sich 
nicht besserte, war das Interesse für politische Aktivitäten und Reformprogramme 
gering; nicht zuletzt konstatierten dies die Parteien und Gewerkschaften bei ihrem 
chronischen Mangel an qualifiziertem Führungspersonal. Auch die Besatzungs 
macht traf mit ihren Reformabsichten in dieser Situation nicht immer auf Gegen 
liebe von deutscher Seite. Damit führt die badische Ernährungsdiskussion zu einem 
Kernproblem der Interaktion zwischen Besatzungsmacht und deutscher Bevölke 
rung und liefert einen ersten Erklärungsansatz dafür, weshalb bis heute die Reform 
aktivitäten in der französischen Zone in der kollektiven Erinnerung keine deutliche 
ren Spuren hinterlassen haben. Im spezielleren Zusammenhang der vorliegenden 
Arbeit stellt sich dabei zweitens das Problem, welche Wirkungen Maßnahmen der 
klassischen Sozialpolitik haben konnten, wenn die Bevölkerung sich - wie es scheint 
- nur zu weit überhöhten Preisen auf illegalem Wege versorgen und für Renten und 
andere Geldleistungen kaum etwas kaufen konnte; insofern ist zu untersuchen, 
welche Rolle die halb- oder illegalen parallelen Versorgungsmöglichkeiten in den 
Nachkriegsjahren für die Bevölkerung spielten. 
Fragt man nach den Hintergründen von Versorgungslage und „Schwarzem Markt“, 
die das Bewußtsein der Bevölkerung nach 1945 weitgehend beherrschten, so eröffnet 
sich eine dritte Perspektive. 
1 Verh. Bad. LT, 12.6. 1947, S. 5.
	        
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