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halte zum Zuge. In Frankreich spielten die Kriegsopfer und ihre Verbände seit 1918
eine bedeutende, eigenständige innenpolitische Rolle und genossen hohes gesell
schaftliches Ansehen. Schon aufgrund dieses innenpolitischen Hintergrundes be
stand bei der französischen Militärregierung ein anderes Problembewußtsein für die
Kriegsopferfrage als bei den anderen Alliierten. In ihrem Verständnis für die Proble
matik geriet die Besatzungsmacht jedoch in einen doppelten Konflikt: einerseits mit
der wirtschaftspolitisch vorgegebenen Zielsetzung, die sozialpolitischen Kosten ge
ring zu halten, und andererseits mit dem Ziel der Vernichtung des deutschen Milita
rismus, unter dessen Zeichen der Kontrollrat auch die Kriegsopferverbände einge
ordnet hatte. Im Endergebnis ergab sich in der französischen Zone dennoch eine
Bilanz, die insgesamt nicht nur den anderen Zonen, sondern in Teilbereichen auch
dem Bundesversorgungsgesetz von 1950 überlegen war. Die komplizierte Entwick
lung der Kriegsopferfrage in der französischen Zone erlaubt es damit, wieder andere
Facetten der französischen Besatzungspolitik und des Zusammen- oder Gegeneinan
derwirkens deutscher und französischer Verwaltungen zu verfolgen, aber auch in
eines der Gebiete vorzustoßen, in denen Interessenverbände außerhalb von Gewerk
schaften und Arbeitgeberverbänden bereits vor 1948 ein erhebliches Gewicht erhiel
ten.
Daß sich neben der Nutzungspolitik in der französischen Zone auch konstruktive
Neuordnungsansätze entwickeln konnten, hatte nicht nur konzeptionelle Gründe,
wie sie im folgenden an Teilbereichen untersucht werden. Auch die Struktur der
französischen Politik und der Militäradministration schuf dafür Rahmenbedin
gungen — Bedingungen, in denen gelegentlich auch die Ambivalenz der skizzierten
wirtschaftlichen Nutzungsinteressen deutlich wird. Auf manche Konstellationen
wird im Zusammenhang mit der Sachdarstellung ausführlicher einzugehen sein.
Einige Elemente, die für das Verständnis der Gesamtentwicklung wesentlich sind,
seien hier jedoch einleitend zusammengefaßt.
In der Besetzungsphase bis Sommer 1945 hatte, in Anlehnung an die Organisation
der amerikanischen Truppen, eine eigene Einheit, das 5 e Bureau der I. französischen
Armee, die Aufgaben der zivilen Militäradministration zu übernehmen. 8 * Die Akten
dieser G 5-Abteilung geben allein schon in ihrer Unordnung ein lebendiges Bild von
den provisorischen Zuständen, in denen die französische Militärverwaltung ihre
Arbeit begann. 85 86 In der Praxis war bereits hier ein Streit programmiert, der die
gesamte Besatzungszeit durchziehen und zahlreiche Widersprüche der französischen
Besatzungspolitik erklären sollte: Der Kampf zwischen Zivilverwaltung und Armee
innerhalb der Militärregierung. Im Sommer 1945 wurde der Streit offiziell zuungun
sten der Militärs entschieden; die Zivilverwaltung wurde von militärischen Befehlen
unabhängig, und mit Emile Laffon kam aus dem Innenministerium in Paris ein
eigener Chef der Zivilverwaltung nach Baden-Baden. 87 Tatsächlich beeinträchtigte
85 Zur Geschichte der Militäradministration 1945/46 siehe Willis, The French, S. 67 ff., und
Henke, Aspekte.
84 AdO Colmar CGAAA C. 2669.
87 Henke, Aspekte, bes. S. 180 ff. Zu den Konflikten siehe auch zahlreiche Berichte von
Zeitgenossen, u. a. Michel Tournier, Jean Forez und Jacques Madaule.