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2. Kriegsopferpolitik auf Vier-Mächte-Ebene 1945-1947
Die Alliierten standen, als sie Deutschland 1945 besetzten, vor einem Versorgungs
system, in dem sich überkommene, auf Reintegration des Versehrten in die Gesell
schaft gerichtete Tendenzen der Weimarer Republik verwoben mit auf Wehrtaug
lichkeit und Kriegsmotivation zielenden, gelegentlich von spezifisch nationalsoziali
stischen Schlagworten durchsetzten Elementen. Eine Trennung der einen von der
anderen Tendenz war schwierig, zumal wenn in der langfristigen Entwicklungsten
denz der Versorgungsgesetzgebung liegende und als solche nicht spezifisch „militari
stische“ Maßnahmen beispielsweise im nationalsozialistischen Propagandarahmen
einer Führergabe getroffen worden waren. So ergab sich schon bald im Alliierten
Kontrollrat ein jahrelanges Tauziehen um die Vier-Mächte- Gesetzgebung in der
Kriegsopferfrage und andererseits eine Sonderentwicklung in den vier Zonen, die
bis 1949 schließlich allein in den Westzonen zu sieben verschiedenen Versorgungsre
gelungen führte. Trotz dieser scheinbar chaotischen Entwicklung sind die Grund
prinzipien, nach denen die Kriegsopferfrage in den ersten Nachkriegsjahren ange
gangen wurde, für die Stellung der Kriegsopfer und ihrer Interessenvertretung in der
Bundesrepublik in mehrfacher Hinsicht prägend geworden.
Die Entwicklung der Position der vier Besatzungsmächte in der Kriegsopferfrage
war auf westlicher Seite gekennzeichnet durch eine gewisse Unsicherheit, wie die
Ziele von Entnazifizierung und Entmilitarisierung hier zu realisieren seien, während
die Sowjetunion zunächst jegliche Leistungen für Kriegsopfer ablehnte, bis sich
Ende 1947 eine Einigung auf der Basis der Unfallversicherungsprinzipien ergab.
Inzwischen hatten die Regelungen in den einzelnen Zonen sich aber schon längst
auseinanderentwickelt.
In seiner ersten Finanzanweisung hatte das SH AEF bereits im Zuge der Besetzung
im Frühsommer 1945 jegliche Auszahlung von Militärrenten und Militärunterstützun
gen untersagt, mit Ausnahme von Leistungen bei Minderung der Arbeitsfähigkeit,
Leistungen an bedürftige Hinterbliebene sowie Notunterstützungen an Familien wo
möglich nach den geltenden Familienunterstützungssystemen für Soldaten. Die Mili
tärregierung erhielt jedoch die Befugnis sowohl zur Erweiterung wie zur weiteren
Einschränkung der Leistungen. 1 Damit ergab sich für die jeweiligen Befehlshaber
ein recht breiter Ermessensspielraum, welche Leistungen zur Bestreitung des Lebens
unterhaltes zu genehmigen waren. Die allgemeinen SHAEF-Formulierungen dürften
ein wesentlicher Grund dafür sein, daß sich die tatsächliche Situation der Kriegsop
1 Anweisung Nr. 1 an deutsche Beamte betr. öffentliche Einnahmen und Ausgaben. In Baden
wurde die Anweisung im späteren Behördenschriftverkehr ohne genauere Angabe auf Mai
1945 datiert. In den Akten des 5. Büros der 1. französischen Armee (AdO Colmar CGAAA
C. 2669/4-2) findet sich ein deutsch und französisch vorgedrucktes Exemplar, in dem die
Datumszeile freigelassen ist; es ist daher anzunehmen, daß die Anweisung je nach den
örtlichen Gegebenheiten von den lokalen Befehlshabern im Zuge des Aufbaus der jeweili
gen Militärverwaltung zu unterschiedlichen Terminen erlassen wurde und die deutschen
Verwaltungen das verbindliche Datum später selbst nicht mehr feststellen konnten. Zum
Inhalt vgl. auch Scherpenberg, S. 107 ff.; Text ebd. S. 513 f. aus den britischen Akten,
gleichfalls undatiert.