23
sten aufzuhalten versuchte, die sich in der Bundesrepublik aber gleichwohl fortsetz
te. Auch hier werden, aus unterschiedlichsten politischen Lagern, gegenwärtig die
Stimmen wieder zahlreicher, die eine Wiederbelebung dieser Traditionen, auch im
Interesse einer kostengünstigeren Gesundheitsversorgung, fordern. 69 So sehr gerade
bei der vielfältigen Bedingtheit von Sozialleistungssystemen Vorsicht bei Analogie
schlüssen angebracht ist, so erweist sich doch, daß im Südwesten 1945/46, mit
mehrjährigem Vorsprung vor den anderen Westzonen, auch Probleme angegangen
wurden, welche langfristige Grundfragen der sozialen Sicherung betrafen.
Darauf, daß die Sozialversicherung in der Forschung gegenüber anderen Bereichen
der Sozialpolitik zur Zeit ein Übergewicht hat, haben Tennstedt und andere mehr
fach hingewiesen. Die Geschichte der Armenfürsorge und der Wohlfahrt tritt all
mählich aus diesem Windschatten heraus, 69 70 doch andere, gleichfalls große Bevölke
rungsgruppen betreffende Probleme sind noch vergleichsweise wenig beachtet wor
den. Dies gilt auch für die Kriegsopfer. Wenngleich sie in neueren Überblicksdar
stellungen einbezogen werden, 71 entspricht auch dies nur begrenzt ihrem tatsäch
lichen politischen und sozialen Gewicht; 1950 nahm die Kriegsopferversorgung
beispielsweise mit 23,3 % der öffentlichen Sozialleistungen in der Bundesrepublik
quantitativ die zweite Stelle hinter der Rentenversicherung ein. 72 Auch die sozialpoli
tische Standardliteratur beschäftigt sich mit ihr oft nur am Rande. 73 Ein wesentlicher
Grund dafür liegt gelegentlich in einer theoretischen Definition von Sozialpolitik,
welche Kriegsfolgen als zeitbedingt aus der Untersuchung von vornherein aus
grenzt. 74 Einige ungedruckte Dissertationen haben die Problematik, teilweise in
69 Vgl. — um auch einmal ein Beispiel aus der öffentlichen Diskussion zu zitieren — die mit
der Ablehnung einer Aushöhlung des Systems der sozialen Krankenversicherung einherge
hende Forderung: Die Selbstverwaltung ist an der Basis zu stärken! in einem Appell an die
Bundesregierung, den einige der renommiertesten Fachwissenschaftler Unterzeichneten;
Frankurter Allgemeine Zeitung, 22.2. 1984. Systematisch siehe u. a. das Gutachten von
Bogsu. v. Ferber.
Vgl. dazu Zapf, Wohlfahrtsentwicklung; allgemein zum Stand der Wohlfahrtsstaatsdebatte
ders., Wohlfahrtsstaat; Flora u. Heidenheimer(Hg.); Flora, Alber u. Kohl; Mommsen
u. Mock (Hg.); Sachsse u. Tennstedt, mit umfangreichem Quellenanhang. Im knappen
Überblick: Landwehr u. Baron (Hg.), darin zur Nachkriegszeit Dyckerhoff, unter Einbe
ziehung der Kriegsopferfürsorge.
So widmet Hentschel, Geschichte, ihr eine Seite (S. 195 f.). Als Beispiel für eine breitere
Berücksichtigung siehe Stolleis, Quellen, S. 47 ff., 188 ff.
71 Hentschel, System, S. 349.
73 Vgl. etwa das grundlegende Werk von v. Bethusy Huc. Wenig breiter Preller, Praxis, Bd.
2, S. 480-487. Gleichfalls knapp, im Rahmen der theoretischen Analyse jedoch ausge
glichen z. B. Liefmann-Keil, Ökonomische Theorie; Braun, Soziale Sicherung, S. 46 f.
u. 68, unter dem Gesichtspunkt der systematischen Unterscheidung von Versicherung und
Versorgung; Brück, bes. S. 246-250. Neue Impulse deuten sich, wenngleich über die
spezifische Kriegsopferproblematik hinausgehend, im Rahmen der umfangreichen Debatte
über die Behindertenproblematik an, welche auch historische Aspekte einbezieht; vgl. dazu
etwa die Verhandlungen des Deutschen Sozialgerichtsverbandes 1980: Die Soziale Siche
rung der Behinderten, darin besonders den Beitrag von Heinrich Scholler. — Wie zur
Sozialversicherung, wird die Forschungslage auch hier nur an Beispielen Umrissen.
4 So beispielsweise Heyde, Abriß, oder — durch die programmatische Konzentration auf die
„wirtschaftlich abhängigen Schichten“ bedingt — Albrecht, Sozialpolitik.