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1. Deutsche Kriegsopferversorgung vom I.zum II. Weltkrieg
Die Grundlinien der Kriegsopferversorgung, wie sie nach dem I. Weltkrieg entwik-
kelt wurden, wirken bis heute in der deutschen Versorgung fort, wenngleich wesent
liche strukturelle Verbesserungen seit dem II. Weltkrieg vorgenommen wurden. 1
Wesentlichstes Ziel der deutschen Versorgungsgesetzgebung ist es seit dem I. Welt
krieg, Kriegsbeschädigte nicht wie weithin in früheren Jahrhunderten in Randgrup
pen der Gesellschaft abzudrängen - sei es in das Bettelwesen, sei es in Fürsorgean
stalten sondern sie, soweit möglich, durch Berufsberatung, Berufsausbildung,
Arbeitsvermittlung und ähnliche Maßnahmen dem Erwerbsleben zuzuführen und in
ihrer sozialen Stellung zu erhalten. 1 Konzeptionell war dieser Charakter der Kriegs
opferversorgung nicht neu; er war beispielsweise in der preußischen Militärversor
gung ansatzweise seit dem 17. Jahrhundert und verstärkt seit 1813 angelegt (Orientie
rung der Versorgungsleistung an der sozialen Stellung im Zivilleben), 1 3 wurde ange
sichts unzureichender finanzieller Mittel jedoch nur sehr begrenzt realisiert. 1849
wurde der Gnadenthalerin Preußen in eine Pension für Kriegsbeschädigte umgewan
delt, deren Leistungen in den folgenden Jahren verbessert wurden. Mit dem Militär
pensionsgesetz vom 27. Juni 1871 wurde die Versorgung auf Reichsebene vereinheit
licht und in dem Offiziers- sowie dem Mannschaftsversorgungsgesetz von 1906, auf
die zurückzukommen ist, ausgestaltet. Der Durchbruch zum Rechtsanspruch auf
Versorgung und zur sozialen Integration als politischem Ziel erfolgte jedoch erst mit
dem I. Weltkrieg. 1914-1918 war nicht nur die Zahl der Versehrten gegenüber
früheren Kriegen emporgeschnellt und die Last des Krieges vom stehenden Heer auf
das ganze Volk übergegangen. Die Wirtschaftsprobleme der Nachkriegszeit schie
nen auch eine stärkere Nutzung der Arbeitskraft von Versehrten erforderlich zu
machen. 4 Charakteristisch war die deutsche Versorgung, wie Michael Geyer heraus
1 Zur Kriegsopferversorgung in der Weimarer Republik vgl. neben der im folgenden zitierten
Literatur im Überblick: Syrup u. Neuloh, S. 210 f., 378 ff.; Wahlen; Ziem, S. 29 ff. (mit
kursorischem Überblick über ältere Regelungen S. 9 ff.), eine im Auftrag des Bundesarbeits
ministeriums verfaßte Arbeit; Schreiber, Deutsche Lösung, S. 7 ff.; Überlegungen zu den
langfristigen Entwicklungstrends bei Diehl, Change. Eine nützliche Dokumentation ist die
von der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Hauptfürsorgestellen herausgegebene Arbeit
von Szilagi. Für wichtige Hinweise zur Entwicklung der Kriegsopferversorgung vom Kai
serreich zur Weimarer Republik danke ich Dr. Michael Nitsche, Trier.
2 Vgl. dazu z. B. die amtliche Begründung zur Verordnung über die Kriegsbeschädigten- und
Hinterbliebenenfürsorge vom 8. 2. 1919; Ziem, S. 30. Zur Entwicklung der Sozialpolitik von
der Fürsorge zur Versorgung s. systematisch Braun, Soziales Handeln, bes. S. 94 ff.
3 Preußische Kabinettsorder vom 5. 6. 1813, zit. bei Schreiber, Deutsche Lösung, S. 3. Zur
preußischen Militärversorgung vgl. in knappem Überblick ebd., S. 2 ff.; Breil, S. 7 ff.; Ziem,
S. 15.
4 Zahlen der Kriegsversehrten in den neuzeitlichen Kriegen sind kaum zu rekonstruieren, da
sie selten und, wenn dies doch geschah, nach unterschiedlichen Kriterien erfaßt wurden. Die
relativen Größenordnungen kommen in der Zahl der Gefallenen zum Ausdruck; Schätzun
gen zu den größten Kriegen seit dem 30jährigen Krieg bei Langenecker, S. 24 ff. Zum
I. und II. Weltkrieg vgl. die methodischen Bemerkungen und die Schätzungen bei Meyer, Le
poids de l’Etat, S. 245T#., zum I. Weltkrieg bei Whalen, S. 38 ff.