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So schwierig die Interpretation der unvollständigen und teilweise unsicheren Zahlen
der Nachkriegs-Statistiken auch ist: Nimmt man die verfügbaren Informationen in
ihrer Gesamtheit, so erweist sich, daß in der französischen Zone 1946 die Lösung von
Problemen versucht worden und teilweise gelungen ist, die in den anderen beiden
Westzonen erst im Zuge oder nach der Gründung der Bundesrepublik in Angriff
genommen wurden. Der relativ hohe Anteil freiwillig Versicherter in den Ortskran
kenkassen nach Wiederzulassung der Sonderkassen, der Verzicht zahlreicher Be
triebskassen auf die Wiedereröffnung, die hohe durchschnittliche Mitgliederzahl der
wiedereröffneten Betriebskassen und der Anstieg der AOK-Beiträge nach 1948 ge
hören bei aller Vorsicht in der Interpretation zu den Indizien, welche auch in
quantitativer Hinsicht auf Erfolge der Reform in der französischen Zone verweisen.
Wie die Geschichte der Sozialpolitik in der Bundesrepublik zeigt, ist die Organisa
tionsform der Krankenversicherung nur eine von zahlreichen Möglichkeiten, deren
Probleme zu lösen. Die politische Entwicklung bewirkte, daß die im Südwesten
entworfene Lösung 1949 nicht weiterverfolgt wurde. Die Richtigkeit der damit ver
folgten Ziele bestätigte sich jedoch. Die Probleme des Lastenausgleichs der Renten
versicherung wurden 1956 in einer Form gelöst, die der Regelung in der französi
schen Zone de facto nahe kam, indem diese Last auf alle Träger der sozialen
Krankenversicherung verteilt wurde. Die Versicherung der Kriegshinterbliebenen
wurde 1950 im Regelfall durch den Steuerzahler übernommen. Die grundsätzliche
ren Probleme der „Solidarität“ der Versicherten, d. h. der Annäherung der Lebens
bedingungen verschiedener Bevölkerungsschichten, wurden dagegen nur teilweise
gelöst und behielten ihre Aktualität. Durch die Angleichung der Lohnfortzahlung
von Arbeitern und Angestellten seit 1970 ist dieser Streitpunkt zwischen Ortskran
ken- und Sonderkassen beseitigt. Vielfältige Reglementierungen haben den Spiel
raum der Selbstverwaltung im Sinne einer Leistungsangleichung weitgehend einge
engt. Die Probleme der großen Beitragsunterschiede bei den verschiedenen Trägem
der sozialen Versicherung sind aber noch nicht gelöst, und ebensowenig sind die
Leistungen völlig angeglichen. Eine Stärkung der Selbstverwaltung gewinnt zudem
durch die Finanzkrise der sozialen Krankenversicherung neu an Aktualität. Die in
Tabelle 14 ablesbare Entwicklung bezeichnet daher einen wesentlichen Grund dafür,
daß die gegenwärtige wissenschaftliche und politische Diskussion teilweise noch um
die gleichen Probleme kreist, welche auch die Einheitsversicherungsdebatte der
Nachkriegsjahre gekennzeichnet hat.