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3. Auswirkungen der Krankenversicherungsreform und ihres
Scheiterns 1946-1952
Während der Debatten um die Wiederzulassung der Sonderkassen und um die
Sozialversicherungsanpassungsgesetze ist 1949 die Leistungsfähigkeit des von den
Franzosen 1946 eingeführten Systems hart umstritten gewesen. Die Grundfragen
rühren an Probleme, die bis heute erst teilweise gelöst sind. Dies hängt mit der
methodischen Schwierigkeit zusammen, die Vorzüge des einen oder anderen
Systems zu quantifizieren. Auch aus der heutigen Sicht weiterentwickelter statisti
scher Methoden ist dies noch nicht eindeutig möglich; so stellt eine der Zeitschriften
des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen noch 1983 fest, daß bisher eine „aus
reichende Datenbasis“ fehle, um die Beziehungen zwischen Grundlöhnen, Beitrags
sätzen, Ausgaben sowie personen- und ortsbezogenen Umständen zu quantifizieren. 1
Beitrags- und Leistungshöhe der Krankenversicherung hängen von zahlreichen Fak
toren ab, die ihrerseits in sich komplex und in vielfacher Weise interdependent sind.
Dazu gehören unter anderem der Umfang und die Struktur des Mitgliederkreises;
die Höhe seiner Grundlöhne, nach denen die Beiträge berechnet werden; die Quan
tität und Qualität sowie das Preisniveau des regionalen medizinischen Versorgungs
angebots; die Wirtschafts- und Sozialstruktur des von der Kasse betreuten Raumes;
die von den Selbstverwaltungsorganen gesetzten Prioritäten für Kann- und Mehrlei
stungen; der rechtliche Rahmen und seine Veränderungen, insbesondere der Ent
scheidungsspielraum der Selbstverwaltung. 2 Gilt diese Komplexität schon für „nor
male“ Zeiten, so kamen in den Nachkriegsjahren noch die vielfältigen spezifischen
Kriegsfolgen und Auswirkungen der gleichgewichtslosen Wirtschaftsordnung hinzu.
Auch handelte es sich bei dem Zeitraum, den die Reform umfaßte, um eine sehr
kurze und für Systemanalysen schon deshalb nur bedingt geeignete Epoche. Abgese
hen von der Versicherungsanstalt Berlin, deren Geschichte ihrerseits zahlreichen
anderen Sonderfaktoren unterlag, und der auf eine Stadt begrenzten Krankenkasse
Bremerhaven, ist die kurze Geschichte der Einheitskrankenkasse in der französi
schen Zone jedoch das einzige Beispiel einer derartigen regional gegliederten Ein
heitskrankenkasse in der deutschen Geschichte. So sei es wenigstens dafür genutzt,
einige Anhaltspunkte herauszuarbeiten, die trotz aller methodischen Schwierigkei
ten und Einwände im Trend abzulesen sind.
Eine globale Quantifizierung der Leistungsgeschichte ist vor allem deshalb nicht
möglich, weil die - seither im Zuge der Beschneidung der Selbstverwaltungskompe
tenzen immer stärker vereinheitlichte 3 - Höhe der Kann- und Mehrleistungen je
Differenzierung der Beitragssätze - Problematik von Finanzausgleichen, in: Selbstverwal
tung der Ortskrankenkassen 31(1983), S. 236-243, Zitat S. 239.
Zum derzeitigen Stand des methodischen Instrumentariums siehe u. a. Siebeck und die
Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft: Buttler, v. Leszczynski u. Seffen,
mit umfangreichem statistischem Material zur Situation in den 1970er Jahren.
Zu der Problematik der Leistungsangleichung vor dem Hintergrund des Abbaus sozialer
Selbstverwaltung kritisch u. a. Lampert, Strukturfragen. S. 70 ff.