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1. Die Wiederzulassung der Sonderkrankenkassen 1949
a) Außerparlamentarische Interessenkonstellationen
In der Diskussion über die Einheitsversicherung und vor allem die Vereinheitlichung
der Sonderkassen hatten die Fronten sich seit 1945/46" differenziert und teilweise
verändert. Insgesamt gilt für die französische Zone eine ähnliche Interessenkonstel
lation, wie Hockerts sie für die Bizone aufgezeigt hat und Reidegeld für Berlin. Dies
war auch insofern nicht anders zu erwarten, als die in den Nachkriegsjahren disku
tierten Probleme Grundelemente des sozialen Sicherungssystems betrafen, deren
Gestaltung bis heute umstritten ist. Sieht man von den rein kriegsfolgenbedingten
Aspekten ab, so kehren zahlreiche Sachargumente aus der Diskussion der Jahre
1945-1949 noch in den gegenwärtigen ordnungspolitischen Auseinandersetzungen
um die Sozialpolitik wieder/ Doch führten die unterschiedlichen Bedingungen im
Südwesten zu Abweichungen, besonders im Bereich des Parteienspektrums. Auch in
der französischen Zone zerfiel die Front der Verteidiger der Einheits-Krankenver
sicherung allmählich, aber im Vergleich zur Bizone blieb sie dennoch geschlossener.
Die Zeitumstände waren für die Einheitsversicherung nicht günstig gewesen. Die
vielfachen Kriegsfolgen, aber nun auch die Folgen der Währungsreform, in der die
Sozialversicherung ihre seit 1945 langsam wieder aufgestockten Rücklagen erneut
weitgehend verlor, hatten die Leistungen der Ortskrankenkassen nicht, wie von
diesen erhofft, dem Niveau der Leistungen der Angestellten-Versicherungen angenä
hert und nach 1948 auch zu Beitragserhöhungen geführt. Damit verloren die Anhän
ger einer Einheitsversicherung ihre besten Argumente. Daß angesichts der zahlrei
chen Sonderfaktoren, welche das Leistungsniveau in der Nachkriegszeit belasteten,
ein objektiver Leistungsvergleich auf der Basis der Erfahrungen dieser wenigen
Jahre nicht oder nur unter sorgfältiger Einbeziehung aller außergewöhnlichen Ein
flüsse zu ziehen gewesen wäre, ging in der harten politischen Auseinandersetzung
vielfach unter. Entscheidend war diese Sondersituation der Nachkriegsjahre inso
fern, als sie zum Zerfall der Fronten der Befürworter einer Einheitsversicherung
beitrug und die Interessenverbände der Sonderkassen an Rückhalt in den Kreisen
der Versicherten gewannen. Schon vor der Währungsreform lief die Diskussion
wieder zögernd an, doch als die politische Debatte Ende 1948 voll aufbrach, wurden
die Landtage der französischen Zone mit einer wahren Flut von Stellungnahmen von
Verbänden, Kassen, Betrieben und einzelnen Betroffenen eingedeckt. Eine Unter
schriftenaktion bei ehemaligen Mitgliedern der aufgelösten Kassen in der französi
schen Zone erbrachte 165 000 Unterschriften für die Wiederzulassung der Sonder-
kassen. 4
2 Vgl. dazu oben S. 237 ff.
3 Vgl. beispielsweise zusammenfassend die einleitend zitierten Beiträge zu der Tagung des
Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen im September 1983, in: Albers u. a.,
Strukturfragen.
* Stolt,S. 157.