Full text: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953

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IV. 
Demokratisierung in kleinen Schritten: 
Der Wiederaufbau der Selbstverwaltung 
in der Sozialversicherung 
1. Selbstverwaltung nach dem Zusammenbruch 
Nicht nur für die Sozialpolitik selbst, sondern auch für ihre Funktion im Gesamtrah 
men der französischen Besatzungspolitik war der Wiederaufbau der Sozialversiche 
rungs-Selbstverwaltung bezeichnend. Von deutscher Seite wurde den Alliierten in 
den Nachkriegsjahren vorgeworfen, sie hätten für die deutsche Selbstverwaltungs 
tradition kein Verständnis gehabt. 1 Für die Franzosen trifft dies nicht zu. Selbstver 
waltung der Sozialversicherung wurde schon im Programm des Conseil National de 
la Resistance vom 15. März 1944 gefordert, und sie wurde in begrenzter Form auch 
bei der Neuordnung der französischen Sozialversicherung 1944/46 eingeführt: nicht 
als volle, aber immerhin als indirekte Selbstverwaltung durch die Versicherten. 2 Im 
Gegensatz zu den Angelsachsen war diese Tradition den Franzosen daher nicht ganz 
fremd. Im Nachkriegsdeutschland war Frankreich die einzige westliche Besatzungs 
macht, die eine Selbstverwaltung in der Sozialversicherung nicht nur zugelassen, 
sondern energisch gefördert hat. Während in den Ländern der Bizone zunächst nur 
Verwaltungsanordnungen ergingen, das nationalsozialistische „Führerprinzip“ dort 
im wesentlichen bis zu den Sozialwahlen 1952/53 fortgalt und auch das (einzige) 
Landes-Selbstverwaltungsgesetz von Bayern aus dem Jahr 1948 nicht durchgeführt 
wurde, verabschiedeten alle Länder der französischen Zone 1947/48 entsprechende 
Gesetze und führten 1948/49 die ersten Sozialwahlen der Nachkriegsjahre durch. 3 
Ihre Erfahrungen gingen in die Beratungen über die Bundes-Selbstverwaltungsrege- 
lung ein. 
Daß die ersten Sozialwahlen auch im Südwesten nicht sofort nach dem Krieg, 
sondern erst nach der ersten Aufbauphase stattfanden, hing sowohl mit der Struk 
tur der Selbstverwaltungskörperschaften wie mit dem Charakter der franzö 
sischen „Demokratisierungs“-Politik zusammen. Hervorgegangen aus den Selbst 
hilfeeinrichtungen des 19. Jahrhunderts, hatte sich die Beteiligung der Arbeitgeber 
und der Versicherten an der Leitung der verschiedenen Zweige der Sozialversiche 
So beispielsweise der rheinland-pfälzische Arbeitsminister Wilhelm Bökenkrüger, Das Ar 
beitsministerium, S. 250. 
2 Vgl. dazu oben S. 131 ff. 
Im Überblick siehe die Schrift des Vorsitzenden des Ortskrankenkassenverbandes: Karl 
Zapp, Die Selbstverwaltung.
	        
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