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4. Reformansätze im Sachzwang
a) Die Sozialversicherungsreform im April 1946
Im August 1945 waren die ersten Vorarbeiten zur Schaffung einer umfassenden
Einheitsversicherung in der französischen Besatzungszone von der Zentrale in Ba
den-Baden ausgegangen. Die internen Stabilisierungsvorgänge im Apparat der Be
satzungstruppen und die Auseinandersetzungen zwischen Militär- und Zivilverwal
tung trugen dazu bei, daß die ersten praktischen Maßnahmen im Spätsommer und
Herbst zunächst auf regionaler Ebene ergriffen wurden. Ende Oktober erfolgte in
Baden-Baden ein erneuter Anlauf zu einer Zentralplanung im gesamten Soziallei
stungsbereich. Die Wirtschaftsdirektion der Militärregierung verwies zunächst dar
auf, daß die Sozialversicherungsbeiträge angesichts der niedrigen Wirtschaftsaktivi
tät eigentlich vervierfacht werden müßten; Vertreter der Baden-Badener Direction
du Travail und der französischen Kontrollratsgruppe in Berlin bremsten hier ener
gisch. 1 Ausgehend von dieser zunächst eher technischen Diskussion, wurde die
Sozialversicherungsplanung nun zum Bestandteil einer breiter angelegten, auf Neu
ansätze in Deutschland zielenden Sozialpolitik. Im Verlauf des Frühjahrs 1946 ent
wickelte sich diese elaboration dune doctrine sociale zu Plänen für eine umfassende
reorganisation sociale, wie es die Direction du Travail in ihrem Monatsbericht für
April 1946 formulierte. 2 Dazu gehörten die Weiterentwicklung des Gewerkschafts
aufbaus durch die Zulassung von Zusammenschlüssen auf breiterer Grundlage im
April und die Präzisierung der Mitbestimmungsplanungen ebenso wie die Reformen
im Bereich der klassischen Sozialpolitik und damit die von einem souci constant de
democratisatiorf bestimmte Sozialversicherungsreform.
Die Entwicklung der Reform ist ein Beispiel dafür, wie der auch aus innenpoliti
schen französischen Erfahrungen gespeiste Reformenthusiasmus der sozialpoliti
schen Kräfte innerhalb der Besatzungsverwaltung nun durch die vielfältigen Sach
zwänge der praktischen Politik eingeengt und in seinen Wirkungsmöglichkeiten
reduziert wurde. Trotz der teilweise vehementen Versuche, auf diese Reform Einfluß
zu gewinnen, sind die deutschen Konzeptionen nur ein Aspekt in dem Geflecht, das
zu der Sozialversicherungsverordnung vom April 1946 führte. Die französische Mili
tärregierung verzichtete 1946 nicht nur wegen des deutschen Druckes auf ihre ur
1 Protokoll der Commission d'Examen de la Question des Pensions et retraites titulaires alleman-
des, 6. 11. 1945; AdO Colmar CGAAA C. 2672/11-2 und Vermerk der Direction du Travail,
9. 11. 1945, ebd. Cab. Koenig C. 148/Eco V A4. Die Arbeitsoffiziere vertraten zu dieser Zeit,
wie später der Kontrollrat, eine Anhebung der Rentenversicherungsbeiträge von 5,6% auf
10%. Das interne Bulletin de renseignements des CCFA (Nr. 15, 3. 11. 1945; AdO Colmar)
veranschlagte die erforderlichen Beiträge auf 11 %.
2 AdO Colmar Bade 2137.
J Bericht der Direction du Travail über das erste Jahr ihrer Tätigkeit, 30. 7. 1946; AdO Colmar
Cab. Koenig C. 148/Eco V Al. Ähnlich der zusammenfassende Semesterbericht von Arbeits
direktor Grosse im Grand Conseil de Gouvernement bei Koenig, 28. 5. 1946; Protokoll ebd.
C. 187/B I 5.