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1. Ausgangslage 1945: Sachzwänge als Reformanstoß
Die ahistorische Abgrenzung der Besatzungszonen auf dem Boden des deutschen
Reiches, wie sie aus den Planungen der Kriegsjahre und den späten Zugeständnissen
an die Franzosen hervorgegangen war, brachte für die Franzosen nicht nur auf
Kontrollratsebene größere Probleme mit sich als für die anderen Besatzungsmächte.
In noch stärkerem Maße als in den anderen Zonen war die ökonomische und
administrative Infrastruktur des Südwestens durch den im wesentlichen stra
tegisch bestimmten Verlauf der Demarkationslinien in ihren Funktionen beeinträch
tigt worden. In Baden und Württemberg wurde die dadurch entstehende Verwirrung
noch vergrößert durch die Verzögerung der genauen Grenzziehung und das daraus
resultierende monatelange Tauziehen um die Kompetenzen der deutschen und alli
ierten Verwaltungsstellen in amerikanischer und französischer Zone; Carlo Schmid
und Theodor Eschenburg haben dies anschaulich geschildert. 2 * Allerdings konnte der
Zusammenbruch von Verwaltung und Kommunikationssystemen im politischen Be
reich teilweise aufgefangen werden durch die Reduzierung der Aktivitäten auf klei
ne, oft nur lokale Räume, wie sie die Wochen nach der Kapitulation kennzeichnete.
Sie hatte unter anderem eine ungeahnte Kompetenzsteigerung der Landräte, Bürger
meister und Oberbürgermeister zur Folge, die man, wie Theodor Eschenburg es für
Süd-Württemberg formulierte, 1 bei dem Aufbau der Landesverwaltung dann erst
einmal wieder zähmen mußte. 4 5 Eine solche Reduktion der Infrastrukturen war in der
Sozialpolitik jedoch kaum möglich, wenn man von der karitativen Arbeit, den Orts
krankenkassen und Teilen des Fürsorgesystems absah.* Die meisten sozialen Trans
ferleistungen waren auf regionaler oder auf Reichsebene organisiert und brachen mit
dem Kriegsende zusammen, soweit Gemeinden und Kreise nicht von sich aus in
Vorlage traten. Dies lag einerseits an der Blockierung aller Finanziellen Transaktio
nen durch die Besatzungsmächte, die zwar relativ rasch in kleinem Rahmen wieder
gelockert wurde, vor allem für Reichsverbindlichkeiten und überregionale Transfers
in den meisten Regionen aber mehrere Monate bestehen blieb. 6
2 Schmid, Württemberg-Hohenzollern; Eschenburg, Aus den Anfängen. Ausführliche Dar
stellung bei Konstanzer, Entstehung; Gögler, Richter u. Müller; Schnabel; Nüske,
Württemberg-Hohenzollern, mit Nachweis der weiteren Literatur. Zu Baden vgl. u. a. Paul-
Ludwig Weinacht u. Paul Sauer, Die politische Nachkriegsentwicklung und die Auseinan
dersetzung um den Südweststaat, in: Becker u. a., Badische Geschichte, S. 206 ff.; Schwarz
maier, Der deutsche Südwesten, S. 117 ff. — Überblick zur Abgrenzung der Besatzungszonen
u. a. bei Sharp u. bei Springorum, S. 97 ff.
1 Gespräch mit dem Verfasser in Tübingen am 26. 7. 1982.
* Zur Bedeutung der Landrätekonferenz in Württemberg-Hohenzollern als früher politischer
Vertretungskörperschaft s. Eschenburg, Aus den Anfängen.
5 Hierzu z. B. Hans-Josef Wollasch, 1945; Die „Stunde Null“ als Stunde der Caritas, in:
Schwarzmaier (Hg.), Landesgeschichte, S. 367—381.
“ Die Etappen der Wiederaufnahme des Geldverkehrs sind dem Bulletin d’activite des franzö
sischen Oberkommandos 1945/46 zu entnehmen. Zur öffentlichen Finanzwirtschaft v. a. in
der britischen Zone, mit Schilderung der regionalen Unterschiede: van Scherpenberg, bes.
S. 62 ff. u. 120 ff.