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wurde das Ziel der wirtschaftlichen Einheit bestätigt und die politische Dezentrali
sierung des deutschen Staatswesens diesem Ziel untergeordnet. Diese Ziele hätten,
so Noiret, mehrere Konsequenzen. Die freie Konkurrenz im Bundesgebiet begrenze
die Ländergewalt auf wirtschaftlichem Gebiet erheblich, auch wenn sie in der Ver
fassung extensiv gefaßt werde. Ebenso erfordere die wirtschaftliche Abrüstung eine
Wirtschaftsplanung mit rigoroser Beschränkung der Kriegsproduktion und mit
Preiskontrolle auf Bundesebene. 1 ” Die Wirtschaftseinheit ziehe die Notwendigkeit
einer Zentralisierung auf den meisten Gebieten der Sozialpolitik nach sich. Preisein
heit auf Bundesebene sowie Freizügigkeit im Bundesgebiet bedeuteten, daß auch die
Empfehlung, den Tarifpartnern weitgehende Entscheidungsfreiheit zu belassen, nur
eine platonische Verbeugung vor den demokratischen Prinzipien sei, in der Praxis sich
aber rasch eine einheitliche Lohnbildung ergeben werde. Ebenso seien einheitliche
Sozialleistungen erforderlich. Solange die Alliierten die deutsche Arbeitskraft auf
bestimmte Wirtschaftssektoren wie Kohlenbergbau, Bau oder Landwirtschaft lenken
wollten, sei ein zentrales Arbeitslenkungsinstrument wie seit 1927 erforderlich, wo
für die von den Franzosen im Kontrollrat vorgeschlagenen bureaux allies am geeig
netsten erschienen. Eine Diversifizierung sei möglich im Bereich der Mitbestim
mung, in dem das Kontrollratsgesetz Nr. 22 schon jetzt eine unterschiedliche, bei
spielsweise in den verschiedenen Länderverfassungen der US-Zone zu beobachten
de Ausgestaltung erlaube; über die Gewerkschaften werde sich jedoch auch bei
unterschiedlicher Gesetzgebung in der Praxis eine Annäherung der Bedingungen
herausbilden. Gleiches gelte für die Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten und für die
Arbeitsgerichtsgesetzgebung nach Kontrollratsgesetz Nr. 21; ihre gesetzliche Diver
sifizierung sei wohl möglich, bringe politisch allerdings nicht viel und werde ohnehin
eine Bundes-Schiedseinrichtung erfordern, da die Gewerkschaften kaum unter
schiedliche Arbeitskampfergebnisse in gleichen Branchen akzeptieren würden.
Insgesamt beurteilten die Spitzen der französischen Verwaltung in Deutschland die
Dezentralisierungsmöglichkeiten angesichts der vorgegebenen wirtschaftspoliti
schen Ziele also als gering. Sowohl der nationale Markt wie die vorläufig noch
aufrechterhaltenen zentralverwaltungswirtschaftlichen Maßnahmen erforderten in
den meisten Gebieten Regelungen auf Bundesebene, und wo dies nicht erforderlich
sei, etwa bei Arbeitsbedingungen und -beziehungen, sei keine grande diversite prati-
que ä esperer. Eindeutiger konnte man kaum formulieren, daß die Praxis der Besat
zungspolitik sowie die wirtschaftlichen Vorentscheidungen und Sachzwänge eine
Realisierung der offiziellen französischen Dezentralisierungspolitik in wesentlichen
Teilen in Frage stellten. Soweit die französische Wirtschaftspolitik in Deutschland
auf eine langfristige Beeinflussung der branchenspezifischen Struktur der deutschen
Wirtschaft zielte, erwies sich damit zugleich auch der innere Widerpruch zwischen
föderativen politischen Zielen und der Wirtschaftspolitik. Ende 1946 war damit
deutlich, daß neben den wachsenden französischen Abhängigkeiten von den USA *
Der Begriff „Bundesgebiet“ etc. erscheint hier nicht als Anachronismus, da die französi
schen Texte nicht von interzone sondern, wie bei der Moskauer Konferenz und nach der
Cjründung der Bundesrepublik, bereits von territoire federal, reglementation federale etc.
sprachen.