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wirkte die Atlantic-Charta vom 12. August 1941, die ein Recht auf soziale Sicherheit
proklamierte, ebenso darauf ein wie die umfassenden Reformmaßnahmen Roose-
velts seit 1935,” die vor allem das Risiko der Arbeitslosigkeit minderten, die Fürsor
ge für Kinder und alte Menschen erweiterten und eine Renten- und Sterbeversiche
rung einführten. Wie zu zeigen sein wird, erhielten die Beschlüsse von Philadelphia
auch unmittelbare Bedeutung für die französische Besatzungspolitik in Deutsch
land.
Zunächst trugen sie jedoch wie der Beveridge-Plan und das Programm des Conseil
National de la Resistance zur Herausbildung des Konzeptes bei, das als Plan
fran^ais de Securite sociale bekannt geworden ist. Dabei zeigte sich sehr rasch,
was auf verschiedensten Ebenen - auch in der französischen Besatzungszone - ein
Charakteristikum der Einheitsversicherungsbestrebungen der Nachkriegszeit wur
de: Große Entwürfe wie der Beveridge-Plan konnten Anstöße geben. Doch die
eigentlichen Reformdebatten wurden vorwiegend von anderen Faktoren bestimmt:
Von den länderspezifischen sozialpolitischen Traditionen und dem Eigengewicht,
das die etablierten Institutionen entwickelten; von den jeweiligen sozialen und
ökonomischen Bedingungen; von den politischen Kräften, deren Konzeptionen und
Wirkungsmöglichkeiten ihrerseits durch eine Vielzahl weiterer Faktoren beeinflußt
wurden. Obwohl vor dem Hintergrund der internationalen Debatten der Kriegszeit
entstanden, entwickelte der französische Sozialversicherungsplan unter der Feder
führung von Pierre Laroque daher einen durchaus eigenständigen Charakter.” Ga
rantie eines Existenzminimums, Vereinheitlichung der Organisation und - hierin
schon vom Beveridge-Plan abweichend - Ausdehnung der Selbstverwaltung waren
die Grundprinzipien, um die ein scharfer, wie in der Zwischenkriegszeit wiederum * *
15 Zur amerikanischen Social Security Act vom 14. 8. 1935 s. Durand, S. 96 ff.; Dupeyroux,
Droit de la Securite sociale, S. 65 ff. (beide mit Nachweis weiterer Literatur).
10 Kurze Zusammenfassung bei Saint-Jours, S. 231 ff., bei Dupeyroux, Entwicklung,
S. 96 ff., und bei Bourquin, S. 304 ff. Ausführlicher, doch weniger auf die Inhalte der
Sozialpolitik als auf die politischen Auseinandersetzungen eingehend und vor allem den
Kampf um die Selbstverwaltung betonend Galant, der vorwiegend die parlamentarischen
Debatten und Teile der Publizistik ausgewertet hat. Trotz der sich seitdem mehrenden
Uberblicksdarstellungen zur Sozialpolitik bieten die präzisesten Informationen über ihre
Inhalte nach wie vor die entsprechenden Jahrgänge von L’Annee politique; sie werden
durch spätere Darstellungen daher nur teilweise ersetzt bzw. ergänzt. L’Annee politique ist
neben dem Tagungsband: Le Gouvernement de Vichy, auch eine der wenigen Publikationen,
die nicht dem Mythos des völligen Neubeginns 1945 erliegen, sondern die Verbindung zur
Politik der Besatzungszeit hersteilen. Umfassender Nachweis der zeitgenössischen französi
schen Literatur einschließlich ungedruckter Dissertationen bei Durand, S. 121 f. Aus der
umfangreichen neueren Literatur s. vor allem: Getting, La Securite sociale; unter den
zahlreichen Publikationen von Pierre Laroque s. u. a. La Securite sociale de 1944 ä 1951;
ders., Securite sociale 1945-1985, und weitere Beiträge in den Jubiläumspublikationen zum
40. Jahrestag: Comite d’Histoire de la Securite sociale, Bulletin de liaison 14 (1986), sowie:
Quarante ans de Securite sociale, Sondernummer der Revue fran9aise des Affaires sociales
1985; Dupeyroux, Droit de la Securite sociale, S. 286 ff.; Ministre de la Sante publique et de
la Securite sociale (Hg.), Vingt-cinq ans de securite sociale, Paris 1971. Neue Forschungsan
sätze zeichnen sich erst in jüngster Zeit in den durch das Comite d’Histoire de la Securite
sociale angeregten Arbeiten ab.