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Vergleich zur Inflation nach dem I. Weltkrieg noch relativ stabilen Niveau blieben.
Solange die vom „Dritten Reich“ ererbte zurückgestaute Inflation nicht bewältigt
und das - aus welchen Gründen auch immer - übernommene Bewirtschaftungs
system nicht durch eine neue Finanz- und Wirtschaftsordnung ersetzt wurde und
solange eine ausreichende und an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte
Produktion in Deutschland nicht möglich war, hat das Bewirtschaftungssystem aus
sozialpolitischer Sicht zwar nicht den selbstgesetzten Anspruch erfüllt, aber durch
eine gewisse Nivellierung des Mangels für weite Bevölkerungskreise erheblich grö
ßere Katastrophen mit verhindert.
In sozialpolitischer Perspektive ergibt sich aus diesen Rahmendaten die Möglichkeit
einer genaueren Beurteilung der Relevanz des Sozialleistungssystems in den Jahren
nach dem Zusammenbruch: Wenngleich in einem wiederum von der individuellen
Situation abhängigen unterschiedlichen Ausmaß, blieb die Bedeutung aller Leistun
gen der klassischen Sozialpolitik auch in der scheinbar vom „Schwarzen Markt"
beherrschten Zeit weitgehend erhalten. Dies gilt besonders in dem Maße, in dem die
Sozialpolitik sich mit Kranken, alten Menschen und Kriegsversehrten gerade sol
chen Bevölkerungsgruppen zuwandte, die auch die relativ geringsten Zugangsmög
lichkeiten zu den parallelen Märkten hatten. Diese Bedeutung der Sozialpolitik
verstärkte sich in den Nachkriegsjahren weiter in umgekehrter Funktion des Aus
trocknens der nicht gewerblichen parallelen Märkte. Eindeutig war die Relevanz der
Naturalleistungen, die in den im folgenden untersuchten sozialpolitischen Bereichen
einen wesentlichen Raum einnahmen - sei es aufgrund des Systems selbst, etwa bei
Medikamenten und Heilverfahren in der Krankenversicherung oder bei Berufsfür
sorge und orthopädischer Versorgung der Kriegsbeschädigten, sei es durch zusätz
liche Lieferung von Waren, die auf den parallelen Märkten nicht mehr zugänglich
waren. Doch auch die Geldleistungen behielten eine größere Bedeutung, als es
rückblickend gelegentlich erschien. Daß man für die Reichsmark „nichts“ mehr
kaufen konnte, gilt nur mit der Einschränkung, daß man dafür immerhin die Ernäh
rung in dem beschriebenen Ausmaß tatsächlich sichergestellt hat, auch wenn das
Ausmaß in der kollektiven Erinnerung unterschätzt wird.
Die politische Bedeutung der Schwarzmarktproblematik beruhte sowohl auf der
Überschätzung der parallelen Versorgungsmöglichkeiten wie auf der beschriebenen
Marktspaltung aus der Sicht der Verbraucher, welche zu einem der beherrschenden
Probleme in den Auseinandersetzungen mit der Militärregierung wurde. Die subjek
tive Überschätzung der tatsächlich in den Nachkriegsjahren gegebenen parallelen
Versorgungsmöglichkeiten ist in doppelter Hinsicht verständlich. Wenn das Gesamt
niveau der Ernährung auf oder unter das Existenzminimum sinkt, gewinnen auch
kleinste Nahrungsmengen sowohl psychologisch wie physiologisch erheblich an
Bedeutung; insofern haben die parallelen Märkte, so klein sie waren, zweifellos
schwerere Gesundheitsschäden bei der deutschen Bevölkerung mit verhindert. An
dererseits erforderte der Erwerb der illegalen Zusatzversorgung bei Hamster- und
Bettelfahrten und im Schwarzmarktgeschäft in der Regel eine im Verhältnis zum
erzielten Gewinn unverhältnismäßig g~oße Energie; zusammen mit dem oft abenteu
erlichen Charakter der Unternehmungen trug dies zu der relativen Überschätzung
der tatsächlich auf solchem Wege erworbenen Mengen bei.