Full text: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953

120 
Vergleich zur Inflation nach dem I. Weltkrieg noch relativ stabilen Niveau blieben. 
Solange die vom „Dritten Reich“ ererbte zurückgestaute Inflation nicht bewältigt 
und das - aus welchen Gründen auch immer - übernommene Bewirtschaftungs 
system nicht durch eine neue Finanz- und Wirtschaftsordnung ersetzt wurde und 
solange eine ausreichende und an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte 
Produktion in Deutschland nicht möglich war, hat das Bewirtschaftungssystem aus 
sozialpolitischer Sicht zwar nicht den selbstgesetzten Anspruch erfüllt, aber durch 
eine gewisse Nivellierung des Mangels für weite Bevölkerungskreise erheblich grö 
ßere Katastrophen mit verhindert. 
In sozialpolitischer Perspektive ergibt sich aus diesen Rahmendaten die Möglichkeit 
einer genaueren Beurteilung der Relevanz des Sozialleistungssystems in den Jahren 
nach dem Zusammenbruch: Wenngleich in einem wiederum von der individuellen 
Situation abhängigen unterschiedlichen Ausmaß, blieb die Bedeutung aller Leistun 
gen der klassischen Sozialpolitik auch in der scheinbar vom „Schwarzen Markt" 
beherrschten Zeit weitgehend erhalten. Dies gilt besonders in dem Maße, in dem die 
Sozialpolitik sich mit Kranken, alten Menschen und Kriegsversehrten gerade sol 
chen Bevölkerungsgruppen zuwandte, die auch die relativ geringsten Zugangsmög 
lichkeiten zu den parallelen Märkten hatten. Diese Bedeutung der Sozialpolitik 
verstärkte sich in den Nachkriegsjahren weiter in umgekehrter Funktion des Aus 
trocknens der nicht gewerblichen parallelen Märkte. Eindeutig war die Relevanz der 
Naturalleistungen, die in den im folgenden untersuchten sozialpolitischen Bereichen 
einen wesentlichen Raum einnahmen - sei es aufgrund des Systems selbst, etwa bei 
Medikamenten und Heilverfahren in der Krankenversicherung oder bei Berufsfür 
sorge und orthopädischer Versorgung der Kriegsbeschädigten, sei es durch zusätz 
liche Lieferung von Waren, die auf den parallelen Märkten nicht mehr zugänglich 
waren. Doch auch die Geldleistungen behielten eine größere Bedeutung, als es 
rückblickend gelegentlich erschien. Daß man für die Reichsmark „nichts“ mehr 
kaufen konnte, gilt nur mit der Einschränkung, daß man dafür immerhin die Ernäh 
rung in dem beschriebenen Ausmaß tatsächlich sichergestellt hat, auch wenn das 
Ausmaß in der kollektiven Erinnerung unterschätzt wird. 
Die politische Bedeutung der Schwarzmarktproblematik beruhte sowohl auf der 
Überschätzung der parallelen Versorgungsmöglichkeiten wie auf der beschriebenen 
Marktspaltung aus der Sicht der Verbraucher, welche zu einem der beherrschenden 
Probleme in den Auseinandersetzungen mit der Militärregierung wurde. Die subjek 
tive Überschätzung der tatsächlich in den Nachkriegsjahren gegebenen parallelen 
Versorgungsmöglichkeiten ist in doppelter Hinsicht verständlich. Wenn das Gesamt 
niveau der Ernährung auf oder unter das Existenzminimum sinkt, gewinnen auch 
kleinste Nahrungsmengen sowohl psychologisch wie physiologisch erheblich an 
Bedeutung; insofern haben die parallelen Märkte, so klein sie waren, zweifellos 
schwerere Gesundheitsschäden bei der deutschen Bevölkerung mit verhindert. An 
dererseits erforderte der Erwerb der illegalen Zusatzversorgung bei Hamster- und 
Bettelfahrten und im Schwarzmarktgeschäft in der Regel eine im Verhältnis zum 
erzielten Gewinn unverhältnismäßig g~oße Energie; zusammen mit dem oft abenteu 
erlichen Charakter der Unternehmungen trug dies zu der relativen Überschätzung 
der tatsächlich auf solchem Wege erworbenen Mengen bei.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.