114
auch nach unterschiedlichen Bedarfsskalen. 11 Der Schlüssel zu dem sich in unserem
Zusammenhang stellenden Problem liegt aber vermutlich darin, daß sich der Grund
umsatz und damit das Existenzminimum in länger dauernden Hungerperioden lau
fend verringert. Das bedeutet, daß die deutsche Bevölkerung auch überlebt hat,
wenn sie jahrelang nicht das in den verschiedenen Bedarfsskalen geschätzte Norm-
Existenzminimum erhielt - ein Phänomen, das in der „Dritten“ und „Vierten“ Welt
gegenwärtig vielfach zu beobachten ist. Demnach hat die tatsächlich erhaltene Zu
satzversorgung auf den parallelen Märkten nicht die zur Deckung des „offiziellen“
Existenzminimums erforderliche Menge erreicht. Der Widerspruch zwischen den
genannten Schätzungen und den aus den badischen Schwarzmarktberichten gewon
nenen Ergebnissen wäre auf diese Weise zu erklären.
Das Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie in Dortmund hat den Prozeß der
deutschen Unterernährung für die Jahre 1942 bis 1947 genauer zu fassen versucht.“
Es ging zunächst von der Schätzung aus, daß als Existenzminimum unter Normalbe
dingungen für Männer eine Grundkalorienmenge von 1 345 Kalorien ausreicht, zu
denen Mindestwerte für einen minimalen Freizeit- und Arbeitsbedarf, Verdauung
und Bewegung zu rechnen sind; damit werden als Brutto-Mindestbedarf für Männer
1 670 Kalorien angesetzt, für Frauen 1 465 Kalorien, als Gesamtdurchschnitt ein
„Erhaltungsminimum“ von rund 1 530 Kalorien. Dieses unter Normalbedingungen
anzunehmende Erhaltungsminimum ist nach dem Krieg in Deutschland für den
Normalverbraucher jedoch, und dies ist hier wesentlich, offensichtlich weder offi
ziell noch tatsächlich erreicht worden.
Ein Indiz und Gradmesser dafür sind Arbeitsproduktivität und Gewichtsabnahme
der Bevölkerung. Teilweise wird Nahrungsmitteldefizit durch Einschmelzung von
Körpersubstanz ausgeglichen, was sich u. a. in Gewichtsabnahme und bei Kindern
und Jugendlichen auch in Wachstumsdefizit niederschlägt. Für Gewichtsreduzierun
gen nahmen die Dortmunder an, daß ein Kaloriendefizit von 100 Kalorien pro Tag
zu einem durchschnittlichen Gewichtsverlust von 500 g im Monat führt. Da der
durchschnittliche Gewichtsverlust in Deutschland nach den Dortmunder Beobach
tungen unter dem nach der Ernährungslage zu erwartenden Ausmaß lag, muß Ener
gieeinsparung durch Verminderung von Bewegung und Tätigkeit als zweiter Faktor
eine wesentliche Rolle gespielt haben. Das Max-Planck-Institut kam zu der Annah
me, daß in den Jahren 1942-1947 rund 60% des Kaloriendefizits durch Minderung
der Bewegung ausgeglichen wurde und rund 40% durch Gewichtsabnahme. Sowohl
11 Vgl. Jung, Lohn, Ernährung, Leistung, zum Vergleich amerikanischer und europäischer
Bedarfsskalen. Zur methodischen Problematik aufgrund der in Rheinland-Pfalz nach dem
Krieg gewonnenen Erfahrungen umfassend die auch von Rothenberger herangezogene Ha
bilitationsschrift von Arnold, Hunger, bes. S. 206 ff.
“ Lehmann, Energetik. Vgl. dazu auch Arbeitsblatt 1 (1949), S. 147. Die Ergebnisse des Insti
tuts hinsichtlich der Entwicklung der Körpergewichte der Dortmunder Arbeiterschaft sind
zusammengefaßt bei Krautu. Bramsel, mit Vergleichsmaterialien aus den Untersuchungen
anderer Institute. Zum allgemeineren Zusammenhang der Problematik siehe auch das aus
den Institutsarbeiten hervorgegangene Handbuch von Günther Lehmann, Praktische Ar
beitsphysiologie, zum Zusammenhang von Arbeit und Energieumsatz bes. S. 119 ff., zur
Emährungsproblematik S. 365 ff.