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Dabei wurden vielfach auch Kinder losgeschickt, sei es, weil die Eltern nicht ab
kömmlich waren, sei es, weil Kinder größeres Mitleid zu erwecken vermochten. 14
Ökonomisch von den Hamster- und Bettelzügen zu unterscheiden ist das, was man
als private Ringtauschorganisation im Rahmen der Naturaltauschwirtschaft be
zeichnen könnte: Die sich oft über Hunderte von Kilometern erstreckenden Fahrten
von Privatpersonen, die in anderen Zonen gegen ein paar Flaschen Wein oder
ähnliche, dort schwerer zu erhaltende Waren Mangelprodukte eintauschten und
diese zu Hause ihrerseits gegen Lebensmittel umsetzten. In großem Stil haben diese
Fahrten sich offenbar auch im Herbst und Winter 1946 entwickelt, als das Eisen
bahnwesen wieder halbwegs funktionierte, die Durchlässigkeit der Zonengrenzen
größer und mit Gründung der Bizone die Reisemöglichkeiten innerhalb der briti
schen und amerikanischen Zone besser geworden waren. Walter Eucken hat dieses
Tauschsystem und die gesamtwirtschaftlich sinnlose Verschwendung von Arbeits
kraft durch die weiten Reisen bei meist geringstem, wenngleich für den einzelnen
wertvollem Ertrag sarkastisch kritisiert.” Die Tausch- und Hamsterzüge erhielten,
nach den vorrangig transportierten Waren, im Volksmund rasch ihre eigenen Be
zeichnungen, so der Vitaminzug von Dortmund nach Freiburg, der Heringszug von
Frankfurt nach Bremen oder der Äppelexpreß von der Pfalz zum Bodensee, mit dem
vor allem Schuhe, Textilien und Wertsachen in der einen, Äpfel und Kartoffeln in
der anderen Richtung reisten. Ob man die Grenzkontrollen und Razzien unbehelligt
überstand, war Glücksache, und das Risiko konnte erheblich sein. Angesichts der
allgemeinen Notlage und der Unfähigkeit der Behörden, hier Abhilfe zu leisten,
machten Strafandrohungen und exemplarische Bestrafungen aber wenig Eindruck. 74 * * * 78
Dieser private Kompensationshandel konnte vor allem infolge der erheblichen re
gionalen Angebots- und Wertunterschiede funktionieren, die demjenigen,
der die Mühen und Risiken der Fahrt auf sich nahm, einen gewissen Gewinn sicher
ten. Die schwierige materielle Situation im Südwesten hat sich, soweit dies aus den
hier herangezogenen Daten und Berichten deutlich wird, durch diesen „Handel“
aber eher noch verschlechtert, und zwar infolge des durchschnittlich niedrigeren
Preisniveaus in der französischen Zone. Schwarz- und Tauschmarkt griffen hier
teilweise ineinander. Im Vergleich zur britischen und amerikanischen Zone hat der
Preisstop im Südwesten in den Nachkriegsjahren besser funktioniert - teils, weil die
französische Militärregierung auf die Flut von Anträgen auf Erhöhung der amt
lichen Preise zögernder und restriktiver reagierte als Briten und Amerikaner, teils
74 Vgl. dazu auch Rothenberger, Hungerjahre, S. 126 ff., der Hamster- und Bettel wesen le
bendig schildert.
77 Eucken, Deutschland, S. 137-139. Vgl. auch Röpke, Die deutsche Frage, 1 1948, S. 296, und
Stolper, Die deutsche Wirklichkeit, S. 119; Beispiele bei Rothenberger, ebd. S. 129 f.
78 Vgl. dazu beispielsweise den badischen Schwarzmarktbericht für Februar 1947: Alle Schich
ten der Bevölkerung sehen sich in Anbetracht der Lebensmittelnot gezwungen, im Schwarz- oder
Tauschhandel zusätzlich Lebensmittel beizuschaffen. Diejenigen, die nur von den normal zuge
teilten Lebensmitteln leben und die Folgen des ständigen Hungerns bei sich und ihren Kindern
feststellen müssen, können unter Hinweis auf ihr volkswirtschaftsschädliches Verhalten weder
durch Anordnungen noch durch Strafen von der Lebensmittelbeschaffung im Wege des Schwarz-
und Tauschhandels zurückgehalten werden.