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ist auf dem Markt aufgebaut, eine kleine Stadt entsteht inner¬
halb der „wirklichen" Stadt. Durch die Anordnung der
einzelnen Häuser ist das Raum - und Zeitproblem mehr
aufgehoben als gelöst, der Zuschauer sieht den Ortswechsel
als wirklichen Ortswechsel in einem bestimmten Zeitablauf sich
vollziehen. Das Nebeneinander und Nacheinander gewinnt
eine eigene Realität, die zwar von der Wirklichkeit abweicht,
in sich aber konsequent und einheitlich ist. And weiter kann
diese Bühne, weil sie den Wechsel von „innen" und „außen"
sichtbar zu machen imstande ist, auf verdeckte Handlung
verzichten. Es gibt kein „hinter der Buhne" wie es keine
Schauseite gibt, alles ist konzentrisch, räumlich orientiert. Der
Zuschauer sieht, erlebt, wie eine heilige Geschichte auf dem
Platz sich ereignet, zu einer Realität mit eigenen Raum- und
Zeitgesetzen wird.
Daß die Verbindung von religiöser Spieltendenz mit
realistischer Darstellung nicht Selbstverständlichkeit und einzige
Möglichkeit ist, beweist das Theater der antiken Tragödie,
das ebenfalls aus der kultischen Aufführung hervorging.
Hier steht — bei Gleichheit des Illusionswillens — alles, was
von der Bühne ausgeht, in schärfstem Kontrast zum mittel¬
alterlichen Theater: der Spielplatz ist von der Zuschauermenge
nicht allseitig eingeschlossen, sondern es gibt eine Bühnen-
rückwand, die zwischen sichtbarem und unsichtbarem Geschehen
scheidet, also Verdeckung wesentlicher Handlungsteile ermög¬
licht. Raum und Zeit sind in ihrer Neigung zur Einheits-
bewahrung wirklichkeitsfern, sie wollen nicht als Realitäten
dem Zuschauer bewußt werden. Die ganze Aufführung ist nicht
wie im Mittelalter Wirklichkeit — wenn auch höhere Wirk¬
lichkeit — in theatralischer Verkürzung, sondern sie ist Symbol
dieses höheren Geschehens, Projektion ins Anreale.
Zwischen den beiden Formen des religiösen Theaters
besteht also als einziger Vergleichspunkt nur die Tendenz. Der
erhöhte Wille zur Illusion schafft im mittelalterlichen Spiel
wie in der griechischen Tragödie dem Zuschauer stärkstes
theatralisches Erlebnis. Bei dieser Gleichsehung ist aber zu
berücksichtigen, daß die religiösen Tendenzen an sich in beiden
Fällen nicht als absolute Größen gleich sind, daß also auch
die Ergebnisse — theatralisches Erlebnis beim mittelalterlichen
und beim antiken Zuschauer — nicht tatsächlich gleich sind.
Sie stellen nur die gleiche Stufe der Aufnahme- und Erlebnis-
intensität dar.
Mittelalterliches und antikes Theater stehen sich also
durchaus antithetisch gegenüber, soweit man ihre im Kultischen