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Wie steht dazu Kolroß? Er eröffnet das Spiel mit einem
Begrüßungschor an das Publikum, während Birck die Vorrede
vom Herold sprechen läßt. Die drei übrigen Gesänge ordnet
er so an, daß sie jedesmal eine ganze Episode der Handlung
abschließen, eine Nutzanwendung aus dem betreffenden Teil
des Spieles geben. Also kurz charakterisiert: bei Kolroß ge¬
hören die Chöre zum Text, sie sind literarisch, während sie bei
Birck theatralisch bedingt sind. Das heißt aber zugleich, daß
die einzige Ähnlichkeit, die zwischen den Fünfferley Be-
trachtnussen und der Susanna besteht, nur ganz äußerlich ist;
nichts spricht dafür, daß Birck durch Kolroß zugunsten seiner
volkstümlichen Produktion beeinflußt worden ist. Ilm zu er¬
kennen, woher ihm diese Anregung nun wirklich kam, muß man
im Verzeichnis der Basler Aufführungen über das Jahr 1532
hinausgehen: 1533, also in dem Jahr, in dem nach Nysaeus
ungefähr die Aufführung von Bircks Joseph anzunehmen ist,
kommt am Sonntag dem 2. Marz die Lucretia des Heinrich
Bullinger zur Aufführung.
Bächtold und nach ihm Mohr und Creizenach behaupten,
diese Aufführung sei von Birck veranstaltet worden, ihm sei
wohl auch eine Aeberarbeitung des Stückes mit Anfügung
des interessanten Anhanges ,,Wie man diß spil ordnen, vnd
wie die Personen gschickt syn söllen" zuzuschreiben. Ein Nach¬
weis für die Nichtigkeit dieser Behauptungen findet sich nicht,
Hirth-6 kommt zu dem Ergebnis, daß eine Bearbeitung oder
Hinzufügung von anderer Hand nicht vorliegt, und daß
Bächtolds Behauptung wahrscheinlich nur auf der irrigen Be¬
hauptung Burckhardts^, Birck sei der Verfasser der Lucretia,
beruht.
Bullinger schrieb das Stück während seines Aufenthaltes
in Cappel, also zwischen 1523 und 152828. Hier fand wahr¬
scheinlich auch die Erstaufführung statt. Das weitere Schicksal
dieses ersten deutschen Dramas, das seinen Stoff aus der
antiken Geschichte nimmt, ist seltsam: aus einem Brief des
Basler Druckers Oporin an Bullinger^ geht hervor, daß das
Manuskript der Lucretia aus Oporins Werkstatt entwendet
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26. Hir 1 h, Käthe, Heinrich Bullinqers Spiel von Lucretia und
Brutus. Phil. Diss. Marburg 1919.
27. B u r ck h a r d t S. 191.
28. Das Erscheinungsjahr des ersten Druckes im I. 1533 verleitete
allgemein zu der Annahme, das Stück sei erst zu dieser Zeit entstanden. Da
es unter unmittelbarem Einfluß der Parabel vom Verlorenen Sohn des
Burkhard Waldis aus dem I. 1527 steht, wird also als Entstehungsjahr
1528 anzunehmen sein.
29. Bächtold Anmerk. S. 77.