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der künstlerischen Leistungen läßt sich für die Zeit nach 1460 aller¬
dings nicht feststellen: grade für die zweite Hälfte des 15. Jahr¬
hunderts fließen die Quellen des Meistergesangs überaus spärlich,
und im Beginne des sechzehnten riß die kirchliche Keformbewegung
wie alle übrigen kulturellen Betätigungen so auck den Meister¬
gesang völlig in ihren Bann, so daß von einer organischen Weiter-
entwicklung der Tendenzen des 15. Jahrhunderts nicht gesprochen
werden kann.
Bei den Meisterliedern des 15. Jahrhunderts haben wir es,
wenn wir von der verhältnismäßig kleinen Anzahl rein erzählender
Gedichte absehen, fast durchweg mit Lyrik zu tun, Gefühls- und
Gedankenlyrik, Lied- und Spruchdichtung. Innerhalb der den
Vordergrund einnehmenden religiösen Poesie repräsentiert die
Mariendichtung die gefühlsmäßige, die dogmatische Dichtung die
verstandesmäßige Lyrik. Die von irdischer Minne und von Kampf
und Wettstreit über künstlerische Gegenstände handelnden Lieder
lassen sich der ersten, die theoretischen Auseinandersetzungen über
Kunst sowie die gesamte Didaktik der zweiten Gruppe anschließen.
Die balladenartigen Schwänke finden gleichfalls innerhalb der
Lyrik ihren Platz. Lyrische Gegenstände werden also in lyrischen
Maßen behandelt, und ein Gegensatz zwischen Inhalt und Form,
wie wir ihn wiederholt feststellen konnten, geht fast stets auf
eine Verwischung der Grenzen zwischen Lied und Spruch zurück,
ein Fehler, der grundsätzlich weit eher zu entschuldigen ist als
etwa ein Übergreifen der Lyrik in die Epik oder umgekehrt.
Buch abgesehen von dieser Formfrage können Männer wie Mus¬
katblut, Beheim oder Folz, trotz ihren offensichtlichen Schwächen,
als Künstler Anspruch auf Beachtung erheben, und der Meister¬
gesang als Kollektiverscheinung hat dadurch, daß er den neuen
Ideen Nestlers und Folzens den Lieg ermöglichte, seine künst¬
lerische und kulturelle Lebensfähigkeit und Existenzberechtigung
erwiesen^).
y Vgl. das etwas überschwängliche Lob des 15. Jahrhunderts beiyoltz-
mann, Germania Bd. 3 (1858) 5. 307.