Full text: Die Krise des Idealismus

stände und mit einem gewandelten Sehen müsse auch 
eine Veränderung des Formgefüges der Erkenntnis er¬ 
folgen. Es sei immer dann eine katastrophale Erstar¬ 
rung der Wissenschaften eingetreten, oder wenigstens 
habe sich die Gefahr einer solchen Erstarrung ihnen 
immer dann genähert, wenn innerhalb der Wissen¬ 
schaft die Pietät vor der Form eine höhere Achtung 
genossen habe als die Rücksicht auf neue stoffliche 
Erkenntnisse, auf neue Inhalte, auf neue sachliche Ge¬ 
winne. Schließlich wird fast die gesamte Entwicklung 
der Wissenschaften, ganz gleich um welche besonderen 
Gruppen es sich dabei handeln mag, zu einem guten 
Teil beherrscht durch den Kampf neuer Sachkennt¬ 
nisse gegen die Festigkeit und gegen das Ansehen al¬ 
ler und anerkannter Wissensformen. Auch die neuen 
Sache rkenntnisse vermögen natürlich der Formen 
nicht zu entbehren. Nur fragt sich, ob die alten For¬ 
men und welche von ihnen noch tauglich sind zur Er¬ 
fassung, Umfassung und gedanklichen Bewältigung des 
neuen Wissensstoffes. Der Kampf der jüngsten Natur¬ 
wissenschaft besteht nicht zuletzt in dem Ansturm sol¬ 
chen neuen realistischen Sachwissens gegen die Mauer 
der alten idealistischen Wissensformen. 
Diese ganze dialektische Auseinandersetzung stellt 
jedoch nur einen Ausschnitt aus der allgemeinen Dia¬ 
lektik des Geisteslebens überhaupt dar. Ihr Wesen 
und ihr Werden bekunden sich immer wieder in dem 
reibungsvollen und unendlichen Spiel zwischen dem 
Idealismus der Form und dem Realismus des Gehal¬ 
tes, in der Spannung zwischen dem Idealismus des Be¬ 
griffes und dem Realismus des Inhaltes. 
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10 A, Liehert. Die Krise d. Idealismus.
	        
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