82
Die Aktualität der Kunst.
liert hat, die er nicht unterdrücken kann und daher anerkennen
muß, welche die feste Struktur des geschichtlichen Denkens bil¬
den. Aus ihnen erwächst jene wohlverstandene Objektivität, die
sich der subjektiven Willkür dessen entgegenstellt, der leichtfertig
behauptet und leugnet, ohne ernsthafte Gründe ins Feld zu führen;
statt dessen stützt er sich auf oberflächliche und Gründe ohne Be¬
stand, mit denen er sich zufriedengibt, weil er sich leicht zufrieden¬
gibt und jeden Sinn für Kritik entbehrt. Denn auch hier gibt es
solche, die ernsthaft und solche, die in den Tag hinein forschen
und ohne Nachdenken laufen und flattern; aber der Irrtum kann
nur von eben dem Gedanken aufgedeckt und geheilt werden, der
quandoque dormitat.
Die chronologische Objektivität einer geschichtlichen Tatsache
wird nicht von dem Begriff der Immanenz der Tatsache im Ge¬
danken unterdrückt. Sie wird nur von dem phantastischen Außen¬
sein, wo sie durch die fluctuatio imaginationis, von der Spinoza
sprach, sich schwankend bewegt, ins Innere versetzt, wo sie allein
verständlich ist. Denn die Vergangenheit hat in der Reihe der
Zeiten nur in ihrer Beziehung auf die Gegenwart Bedeutung: diese
Zeitenreihe kann man nicht wahrnehmen, wenn man sie nicht
rekonstruiert und an die Gegenwart des Gedankens anknüpft, der
sie rekonstruiert. Werden die verschiedenen Zeitabschnitte des ge¬
schichtlichen Inhalts, den der Gedanke in ihnen errichtet, beraubt,
so kann die Zeit nicht mehr begrifflich erfaßt werden, und ein
Jahrhundert gilt nicht hundert Jahre noch hundert Sekunden. Die
Kette wird als Tatsache und Zeitfolge vom geschichtlichen Denken
geschmiedet und befestigt. Ist sie aber einmal durch die guten
Gründe befestigt, die der Gedanke für jeden ihrer Ringe hat, so
kann sie nicht mehr zerrissen werden, wenigstens nicht, solange
man nicht diese Gründe zerstört. Und in dieser Kette liegt das
objektive Band, das der Gedanke, wenn er es wiedererkennt,
respektieren muß.
6.
Geschichte, Kunst, Traum.
Bevor wir zu der zweiten Schwierigkeit übergehen, muß man
darauf hinweisen, daß zwischen den geschichtlichen Tatsachen, von
denen wir im allgemeinen im vorangegangenen Paragraphen ge¬
sprochen haben, und dem Kunstwerk, das hier im einzelnen zur
Erörterung steht, ein wesentlicher Unterschied besteht, der wegen