Das philosophische Problem.
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Die Philosophie ist also weder Bewohner des obersten Stock¬
werkes noch des Bodenraumes, wie ein Mensch von geringem Geist
zu behaupten wohl die Neigung haben könnte, noch ist sie die
tröstende Gefährtin des Alters. Das besagt, daß sie mit dem
Menschen zusammen geboren wird (wenn sie nicht schon vor ihm
entstand), und mit ihm lebt sie, beharrlich beseelt sie alle seine
Gedanken und alle seine Handlungen noch im Geheimsten seines
innersten Lebens. Nur muß man stillschweigend dabei voraus¬
setzen, daß es eine Philosophie der Philosophen und eine des ge¬
meinen Mannes, eine Philosophie des Erwachsenen wie auch eine
des kleinen Kindes gibt.
All das mag widerspruchsvoll zu dem erscheinen, was im voran¬
gegangenen Kapitel über den Empirismus gesagt wurde, der nicht
Philosophie ist. Aber der Widerspruch besteht nicht, wenn man
zwischen dem Empirismus und dem Empiristen unterscheidet,
zwischen den Ideen, in denen die Menschen sich so oft tummeln
und innerhalb deren sie sich einschließen, weil es ihnen an Über¬
legung fehlt, und dem geistigen Leben, das zu verwirklichen sie
doch tatsächlich imstande sind. Die Systeme können falsch sein;
der Gedanke ist immer wahr, und deshalb gelingt es innerhalb des
Gedankens, die harte Rinde zu durchbrechen, in die jedes System
ihn einzuschließen versucht, und so vorwärts zu kommen. Der
Empirist lebt nicht von seinem System, sondern trotz seines
Systems, und deshalb widerspricht er sich, und deshalb gelingt es
ihm, in viele seiner Worte und Einzelgedanken eben die Wahrheit
zu legen, wie er sie sieht und ahnt. Sie ist das Leben, von dem
sein Inneres erfüllt ist, und die Kraft seines Gedankens, und sie
versucht den Rahmen zu sprengen, der ihr vom System auferlegt
wird. Wenn es diesen ständigen Kontrast zwischen der äußeren
Form des Denkens und dem Denken selbst nicht gäbe, so würde
jeder einmal festgelegte Gedanke wie ein totes und todverbreiten¬
des stehendes Gewässer sein, vor dem jedes Leben früher oder
später zum Untergang verurteilt wäre.
Es ist also richtig, daß jeder Philosoph danach strebt, sich stets
pedantisch in die geschlossene Form seines Systems einzuschließen;
solange er aber lebt, hat er stets den Vorteil, den Plato im
Phädros der mündlichen Erörterung gegenüber der schriftlichen
zusprach — jeder Philosoph gilt mehr als seine Philosophie; denn
als Mensch besitzt er eine Philosophie in seinem Innern, die reicher
und lebenskräftiger als die ist, die er der Außenwelt vermittelt
hat, und die deshalb seine Philosophie heißt.
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