Die Unsterblichkeit der Kunst.
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der Inhalt aus der Form im Kreis der lebendigen geistigen Synthese
erwächst. Der Kritiker, der noch den Inhalt wegen des Wertes, den er
für sich haben kann, von der Form unterscheidet, mit der der In¬
halt zu einem wird und seine Gestalt und seine Wirklichkeit emp¬
fängt, steht noch auf der Schwelle der Kunst und weiß die Tür
nicht zu öffnen, durch die er eintreten müßte.
Die Wahrheit ist, daß, wenn der Hymnus bleibt, auch Jupiter
bleibt, soweit er im Hymnus lebt. In Wirklichkeit wollte der
Dichter vielmehr sagen, es sei ein eitles Bemühen, einen lebenden
Jupiter außerhalb der Dichtung zu finden, die ihn in sich auf¬
genommen und unsterblich gemacht hat.
4.
Die Hegelsche Lehre.
Unsterblich ist die Kunst als Moment der Synthese des Geistes
im konkreten Logos, als Ur-aktivität oder, wenn man will, als
Kategorie des Geistes.11) Das ist der Punkt, der in der Geschichte
der ästhetischen Lehren umstritten worden ist. Und der Platz,
den wir in den vorangegangenen Schriften der Kunst im System
der Formen des Geistes angewiesen haben, hat Anlaß zu Inter¬
pretationen unseres Gedankens gegeben, die analog denen sind, die
die Ästhetik Hegels bei einigen Hegelianern veranlaßt hatte. Auch
dieser war der nur einem abstrakten und antidialektischen Kunst¬
philosophieren mögliche Gedanke fremd, wonach die Kunst dazu
bestimmt ist, irgendwann in einer geistigen Form zu sterben, in
der sich völlig das Dasein dem Wesen des Geistes anpaßt. So sprach
der Italiener de Meis12) vom 19. Jahrhundert als dem Jahrhundert
des Gedankens, worunter er den freien Gedanken, die Vernunft,
die Philosophie verstand. Diese konnte nur Prosa sein, nicht die
Dichtung beseitigen und sie auslöschen.
Aber — es sei im Vorbeigehen gesagt — in dieser wie in an¬
deren gleichartigen Interpretationen des Hegelschen Gedankens
(z. B. seiner politischen Lehre, nach der die geschichtliche Ent¬
faltung ihren Abschluß im preußischen Staat gefunden hat) stoßen
wir nochmals auf die mangelnde logische Unterscheidung zwi-
11) Kategorie ist im eigentlichen Sinne die Synthese als Werden oder
lebendige Einheit der sich widersprechenden Gegensätze.
12) In seinem trotz seiner Widersprüche, seiner halben Wahrheiten und
seiner Weitschweifigkeiten immer lebendigen und überzeugenden Buch: „Dopo
la Iaurea“, Bologna, Monti, 1868/69, 2 Bde.