Full text: Philosophie der Kunst

Die Unsterblichkeit der Kunst. 
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Raum verteilt sind, und viele Gedanken in jedem Denkenden und 
in allen Denkenden, Gedanken, von denen die einen früher und 
die anderen später reifen) in seinem Beobachtungspunkt oder dem 
Mittelpunkt des Blickfeldes unbewegt und hat so einen Bezugs¬ 
punkt zu den Entfernungen und Zeiten. Um aber Raum und Zeit 
beherrschen und in sich geschichtlich den ganzen Gedanken auf¬ 
nehmen zu können, der in seinem Blickfeld liegt, muß er seiner¬ 
seits wach sein. Und Wachsein heißt nicht in dem aufgehen, was 
ist, wohl aber Bewußtsein von sich selbst haben, dieses Bewußtsein 
erobern, das Objekt konstruieren, in dessen Spiegelung das Sub¬ 
jekt sich seines eigenen Seins bewußt wird: sich bewegen, und zwar 
nicht von einem Punkte des Raumes oder der Zeit zum andern 
übergehen (was ein Sich-Verlieren wäre, bei dem man die eigene 
wesensmäßige Einheit verfehlte), sondern von einem idealen Mo¬ 
ment des eigenen dialektischen Seins zum andern. Ein ideales, 
logisches Sich-bewegen, in dem die Einheit ihren Weg nicht ver¬ 
fehlt, vielmehr sicherer, kräftiger, lebensvoller wird, so daß sie 
nicht nur ist, sondern sich behauptet, jeder Verneinung Widerstand 
leistet und sich verteidigt. Die „Selbsterhaltung“, von der Herbart 
scharfsinnig sprach. 
Es ist nicht so, daß diese Einheit der Bewegung, die nicht 
in der Zeit und daher ewig ist, die Verneinung jeder Vielfältigkeit 
wäre. Im Gegenteil: ihr Inhalt ist Vielfältigkeit. Und wenn Raum 
und Zeit Vielfältigkeit sind, so will das besagen, daß ein Raum 
und eine Zeit nur faßbar sind, soweit ihre Vielfalt in der Einheit 
des Gedankens zusammengefaßt und vereint ist, der alle im Raum 
bestehenden Dinge ihrem Verhältnis untereinander entsprechend 
und alle Geschehnisse denkt, die in der Zeit verteilt und daher 
gleichmäßig an eine bestimmte Ordnung geknüpft sind. 
Nun sind alle Dinge sterblich, alle Menschen, Väter und Söhne, 
ihre Handlungen, ihre Aussprüche und Gedanken: kurz alle Be¬ 
standteile, deren Menge sich uns vor dem Gedanken immer dann 
äußert, wenn wir auf den Gipfel der vergangenen und künftigen 
Jahrhunderte steigen und die toten Epochen beschwören wie die, 
die sterben werden. Ein überwältigendes Schauspiel, das uns das 
Bild eines unendlichen Ozeans gibt, dessen Oberfläche sich hier 
und da einen Augenblick zu kräuseln und zu bewegen scheint, um 
sofort wieder glatt, gleichmäßig, unbewegt zu werden. Eine unge¬ 
heure Wüste, wo kein Grashalm wächst. Überlegt man aber, daß 
die Zahl der Dinge groß ist, weil sie beieinander stehen und durch 
«ine Beziehung verknüpft sind, die Einheit ist, wenn wir auf dem
	        
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