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Die Attribute der Kunst.
V.
Die Unsterblichkeit der Kunst.
1.
Der Begriff des unsterblichen Lebens.
Die Unsterblichkeit der Kunst ist leichter zu behaupten als zu
leugnen; gewöhnlicher ist daher der Glaube an sie als der Zweifel,
so sehr, daß man auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für
wahr halten kann, daß die, die vom Tod der Kunst sprachen,
einen Tod darunter verstanden, der nicht die Verneinung der Un¬
sterblichkeit war, wie sie richtigerweise verstanden werden muß.
Denn im allgemeinen ist es viel leichter, von Unsterblichkeit
zu sprechen als von ihr einen frei von Widersprüchen und daher
wahrhaft denkbaren Begriff zu haben. Der Mensch wird gewisser¬
maßen von Natur aus veranlaßt, von ihr zu sprechen, und er läßt
sich nur mit Mühe durch eine schwierige, wenn auch unzureichende
philosophische Betrachtung dazu bringen, an ihr zu zweifeln.
Tatsächlich kann man nicht denken, ohne dem Gedanken einen
Wert beizumessen. Und einen Wert könnte der Gedanke nicht
besitzen, wenn der Geist, der denkt, nicht fähig wäre, eine freie
Aktivität zu entfalten: diese wäre unsinnig, wenn der Geist irgend¬
wie begrenzt wäre. Der tiefe Grund des Glaubens an die Un¬
sterblichkeit ist sein Erscheinen als ratio essendi des Denkens, das
fähig ist, das Wahre zu erkennen und es vom Falschen zu unter¬
scheiden. Ein Mensch der geboren wird und stirbt, eingeschlossen
zwischen diese äußersten Grenzen, jenseits deren nicht er, sondern
ein anderes ist, das deshalb auf ihm lastet, deshalb ihn sein läßt,
was er ist, und infolgedessen ihn sein Werk wirken läßt, kann das
Wahre nicht erkennen, indem er es auswählt und von seinem
Gegensatz befreit; sondern er kann nur erkennen, was er tatsächlich
erkennt, gleichgültig ob es wahr oder falsch ist. In die Erkenntnis
eintreten, ist daher in das Unendliche und das Ewige eintreten,
ein Leben verwirklichen, das nicht von Bedingungen des Ortes und
der Zeit umschrieben, sondern fähig ist, in sich jeden Ort und
jede Zeit zu enthalten. Es ist die immanente Erfahrung jedes
Menschen, der denkt; gleichsam der Grundstein, über den man mit
dem Gedanken alles Denkbare errichten kann.
Wenn man aber „unsterbliches Leben“ gesagt hat, so hat man
zwar als Anspruch aufgestellt, dieses Leben als unsterblich zu