Full text: Philosophie der Kunst

Genie, Geschmack, Kritik. 
217 
sich die Kritik beim Stil und seinen Besonderheiten, bei den Merk¬ 
malen der Schule, der der Künstler angehörte, kurz bei der Tech¬ 
nik aufhält, mittels derer er sein Herz zu erschließen pflegte, 
bereitet sie sich auf das kritische Urteil vor, ist aber noch nicht 
in der Lage, es zu formulieren. In dieser Einführungsphase geht 
sie historisch vor, indem sie die Denkmäler der Kunst mit allen 
Hilfsmitteln interpretiert, die einer solchen Interpretation den 
Weg erleichtern können; sie betrachtet die Geschichte des äußeren 
Lebens des Künstlers und seiner geistigen Entwicklung; daher die 
Geschichte der Ideen, die er in sich aufnahm, der Gewohnheiten, 
Einrichtungen und Bedingungen der Gesellschaft, in der er seine 
Persönlichkeit formte; die Geschichte der künstlerischen Voraus¬ 
setzungen des studierten Werkes in der Entwicklung des 
einzelnen Künstlers und in der künstlerischen Bewegung, 
an der er teilnimmt; die Geschichte der Technik im engsten Sinne 
des Wortes; die Geschichte der Sprache, die man vor dem Verfasser 
>und in seiner Zeit sprach, deren er sich bediente, und die er in 
seinen früheren und späteren Werken seiner Gefühlswelt anpaßte. 
Alle solche Hilfsmittel bringen uns der Persönlichkeit des Künst¬ 
lers näher, mit der der Kritiker in Verbindung treten will, um mit 
mehr Klarheit und Bewußtsein wirklich noch einmal den Weg 
zu durchschreiten, der von dem Künstler begangen wurde, bis er 
an seinem schöpferischen Moment anlangte. Auch dieser muß — 
wir haben es gesehen — seinen Inhalt überwinden und in sicheren 
Besitz der Technik kommen, so daß, wenn er singt oder malt, er 
nichts anderes tut als in objektive Darstellung (ins Selbst-Bewußt¬ 
sein) sein Gefühl zu übersetzen, in das alles übrige aufgenommen 
und mit dem alles unmittelbar in eines gesetzt ist. Ist er dazu 
gelangt, die Welt in seiner reinen Subjektivität aufzulösen, das 
heißt sie zu fühlen, dann vermag er sie auszudrücken, indem er 
aus sich hervorzieht, was hier zusammengeströmt ist, indem er ans 
Licht des Bewußtseins bringt, was bisher dunkle ununterschiedene 
Masse war: einfaches Fühlen. Mittels der Geschichte muß der 
Kritiker eine solche Form der Interpretation oder ein solches 
Denken des Kunstwerks oder des Gedankens seines Urhebers 
erreichen, daß dieser Gedanke nicht wie etwas Objektives vor 
ihm steht, sondern daß er mit der beseelenden Subjektivität, 
mit dem Gefühl, das ihm Leben gab, zu einem einzigen Ganzen 
wird: mit dem reinen Gefühl, das die echte und eigentliche Kunst 
des Werkes, das der geheime Quell seiner Schönheit ist. Dann 
dringt auch der Kritiker in das ein, was man den Stand der 
15
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.